[REVIEW] Jethro Tull - Thick As A Brick

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Pavlos
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[REVIEW] Jethro Tull - Thick As A Brick

Beitrag von Pavlos »

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Jethro Tull - Thick As A Brick (UK, 1972)

Als Vater einer musikaffinen Teenagertocher (14) rede ich mit meinem Nachwuchs oft über Musik. Mein „Problem“ dabei ist, dass mein Kind nicht meinen Geschmack teilt, sondern lieber modernen Pop hört, wie er zuhauf auf TikTok & Co. hochgeladen und von Millionen geliked wird. Natürlich habe ich schon mehrfach versucht, sie von handgemachter Musik zu überzeugen. Nicht, weil ich will, dass sie unbedingt Maiden, Fates Warning und Magnum gut findet, sondern weil ich sie von "echter" Kunst überzeugen will. Echte Gedanken, die von echten Menschen zu Papier, auf eine Leinwand oder aufs Griffbrett gebracht werden. Kein Chat GPT, kein Algorithmus, kein Fake. Doch leider komme ich damit nicht ganz bei ihr durch. Und wenn dann noch die ein oder andere ihrer Freundinnen zu Besuch ist, und ich gegen mehrere pubertierende Mädels gleichzeitig argumentieren muss, dann schwenke ich spätestens nach dem zweiten oder dritten "Der Sänger von Band xy ist aber soooo süß, den hab ich auf Instagram geaddet!" die weiße Fahne und verziehe mich mit einem gequälten Lächeln in mein Musikzimmer. Natürlich ist das stets ein nicht ganz ernst gemeintes, verbales Necken zwischen Vater und Tochter, aber hin und wieder beschäftigt es mich dann doch. Aber wie erklärt man als Erwachsener jungen Menschen, dass das nicht einfach nur Musik ist, was da aus den Boxen kommt, sondern ein ganz wichtiger Baustein der eigenen Spiritualität? Etwas, das man schon seit ganz vielen Jahren hört und genauso liebt wie am ersten Tag. Etwas, das einem in all den Jahren so viel gegeben hat und weiterhin geben wird. Sinnfindung, Wertevermittlung, Wellness für Kopf und Geist, der ganze geile Scheiss halt. Aber wieso schreibe ich das jetzt alles?

Nun, vor ein paar Monaten, als sich mal wieder so ein spaßiger "Mein Kram ist geiler als deiner!" Dialog entwickelte, zog ich "Thick As A Brick" aus dem Regal, legte die Platte auf, drückte meiner Tochter behutsam die Originalpressung in die Hände („Vorsicht bitte, das ist alt und wertvoll“, "Ja, ist ja gut. Du immer mit deinen ollen Platten"), klappte das Cover zur Zeitung aus, und ließ sie ein paar Minuten darin schmökern, während Jethro Tulls Musik im Hintergrund lief. Das Album und sein legendäres Packaging erschienen mir als perfekte Wahl um zu zeigen, wie man mit einfachen von Menschenhand erschaffenen Mitteln in eine andere Welt entführt werden kann. Nach einigen ruhigen und konzentrierten Minuten des Zuhörens kam die Frage "Ist das immer noch das selbe Lied?", woraufhin ich erklärte, dass das sogar ein einziger, knapp dreiviertelstündiger Song sei. Mein Kind, das mit zehnsekündigen Handyclips zum Wegswipen, Likes/Dislikes everywhere und Apps für alles mögliche aufwächst, fand das zunächst mal "awkward" und "cringe", aber dann folgte tatsächlich ein extrem cooles Gespräch über "Thick As A Brick", "meine" Musik, warum ich sowas höre und was es mit mir macht. Danach fand sie Tulls Musik zwar immer noch uncool, aber darum ging es mir ja nicht. Ich glaube, ich konnte einen Denkprozess anstoßen. Nur als es um die Texte des Albums ging, wurde es schwierig...

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Denn was genau will Ian Anderson uns hier mit seinen Lyrics sagen? Will er uns überhaupt irgendwas sagen? Ist das alles vielleicht nur Kokolores eines eitlen und beleidigten Künstlers, der Publikum und Kritiker an der Nase herumführen will? Früher bin ich immer davon ausgegangen, dass er ziemlich viel sagt und dabei wenig sinnvollen Inhalt liefert. Ich dachte, er wolle den Hörer dazu verleiten, die Komplexität der Texte zu analysieren, nur um dann empört festzustellen, dass es im Endeffekt nur bedeutungsloser Blödsinn ist. Was mir beim Verständnis auch nicht half, war die wechselnde Erzählweise. Es ist ziemlich schwierig zu verstehen, wer sich in weiten Teilen des Songs an wen wendet, da der Blickwinkel scheinbar willkürlich zwischen der ersten, zweiten und dritten Person, sowie Singular und Plural wechselt. Im Netz gibt es diesbzgl. viele Anlaufstellen und Analysen, und jeder deutet das anders. Ich für meinen Teil habe die Story in etwa so verstanden: Ein junger Mann, der noch voller Elan und Träume ist und noch nicht vom System unterdrückt wurde, erkennt was in der Gesellschaft falsch läuft, und kann nicht glauben, dass die Älteren, also unsere Anführer, es nicht auch sehen bzw. sehen wollen. Ich gehe davon aus, dass Ian Anderson selbst dieser junge Mann ist und dass „Thick As A Brick“ seine Ansichten darüber veranschaulichen, was alles in der Welt falsch läuft. Dabei streift er so Themen wie Ethik und Moral, das Erwachsenwerden an sich, Liebe und Sex, Krieg und Frieden, liefert die obligatorische Systemkritik, und reflektiert sogar philosophisch über den Sinn des Lebens. Es ist wichtig zu verstehen, dass "thick as a brick" ein britischer Ausdruck ist, der jemanden beschreibt, der dumm ist. „And your wise men don't know hot it feels to be thick as a brick", das heißt, die sog. geistige Elite weiß nicht, wie es ist, dumm zu sein, oder vielleicht merkt sie einfach nicht, dass sie dumm ist, weil sie so von ihrer eigenen intellektuellen Überlegenheit überzeugt ist. Anderson stellt klar: es ist ihm egal, ob du ihm zuhörst, denn du würdest es sowieso nicht verstehen. Er könnte seinen Standpunkt niemals so überzeugend vertreten, dass er dich zum Verstehen bringen würde. Du magst die Musik vielleicht mögen, aber du verstehst nicht, worum es geht. Du hältst dich für so schlau und zivilisiert, aber in Wirklichkeit bist du nur ein Tier, das eben tierische Dinge macht und die hässliche Wahrheit hinter einer Fassade aus Zivilisation und Pseudo-Philosophie verbirgt. Dies alles passiert unter dem Deckmantel eines Gedichts des (fiktiven) achtjährigen Schuljungen Gerald Bostock, der für seine Arbeit ausgezeichnet wird, was die Headline der "St.Cleve Chronicle" Ausgabe darstellt, die wiederum das Artwork bildet. Faltet man die Zeitung aus, bekommt man auf zwölf großen Seiten ganz viele Artikel, die Lyrics, Rätsel, Anzeigen, etc. zu lesen. In vielen dieser Storys gibt es Querverweise auf das Schaffen der Band, aber auch zur Gerald Bostock Story selbst.

Anderson selbst gibt sich in Bezug auf die Texte und ihre Bedeutung seit jeher kryptisch. Er will das Album als satirische Reaktion auf die kritischen Pressestimmen zum Vorgänger "Aqualung" verstanden wissen. Aber auch als Seitenhieb auf Kollegen wie z.B. Genesis und Yes, die in ihren Songs immer mehr in Traumwelten wegdrifteten und dabei ihren Intellekt immer protziger zur Schau stellten. "Thick As A Brick" sollte das alles im Stile Monty Pythons auf die Spitze treiben um es so auf den Arm zu nehmen, wurde aber letztendlich selbst zu einer Art Vorzeigewerk davon. Das Leben gab Anderson Zitronen, er aber warf sie weg und erschuf ein Meisterwerk.

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Dieses Album ist komplex, abwechslungsreich und kompositorisch brillant. Es variiert von sanften, akustischen Folk Passagen über uplifting Parts, bis hin zu aggressiven Abschnitten. Das Material ist weniger Riff-orientiert als auf den vorherigen Alben, das Zusammenspiel atemberaubend, die Drums spielen oftmals herrlich komplexe Patterns. Keyboarder John Evan war nun auch viel stärker im Bandsound involviert und integriert. Sein dominantes Orgelspiel ähnelt in Ton und Klang oft Tony Banks, wie ich finde. Andersons hervorragendes Flötenspiel ist ständig präsent und er war in dieser Phase der Band zweifellos einer der talentiertesten Musiker des Progressive Rock. Obwohl die Akustikgitarre nicht ständig präsent ist, erscheint es einem aber so, da sie in den charakteristischsten Gesangsparts eingesetzt wird und abrupte Stilwechsel innerhalb des Songs markiert. Während die Platte voller einprägsamer Gesangsmelodien ist, entfaltet sich die kompositorische Brillanz der Band erst richtig in den Instrumentalpassagen. Obwohl jede einzelne dieser Passage sehr kurz ist (die meisten dauern weniger als zwei Minuten), klingen sie aufgrund ihrer vielfältigen Instrumentierung, ihres melodischen und rhythmischen Einfallsreichtums und der Virtuosität der Musiker oft musikalisch abenteuerlicher als die Vocals. Manche dienen als Übergänge von einer Gesangspassage zur nächsten, manche zeichnen sich durch virtuose Soli einzelner Bandmitglieder oder der gesamten Band aus, manche bieten starke Kontraste und führen die Musik in neue Richtungen, und manche wiederholen und verstärken Elemente und Zitate aus vorherigen Abschnitten des Songs. Die Musik durchläuft viele Veränderungen, doch jedes Stück folgt organisch dem vorhergehenden, sodass sich die Platte tatsächlich wie ein einzelner Song anfühlt und nicht wie eine Suite.

"Thick As A Brick" ist ein volle-Punktzahl-Klassiker, der den Hörer jedes Mal aufs Neue herausfordert. Hier gibt es musikalisch und textuell so verdammt viel zu entdecken, dass ich Andersons "I wanted to create the mother of all concept albums" Statement ohne mit der Wimper zu zögern unterschreiben würde. Der Hörer selbst entscheidet, wie tief er abtauchen will, wieviel er dabei verstehen will. Zum Schluss nochmal eines von Andersons alten Zitaten, mit dem er sich auf die Erschaffung dieses Albums und seines Nachfolgers "A Passion Play" bezog: "I like an album that’s difficult to listen to. I like to have to sit down and really work into the music. A listener should make that effort. I don’t like music that kind of unconsciously gets your foot tapping. I could write that kind of music, but it’s just too easy. That’s using music as a tactical weapon to sell records. I think it’s important for the listener to feel that an effort has been made, that he has actually contributed in some way to the enjoyment for the music". Ob die heutige Jugend überhaupt in der Lage ist, diese Erfahrung zu machen? Ob sie es überhaupt will? Ich würde es mir wünschen, und bleibe weiterhin bei meiner Tochter und ihren Girls dran.

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Alexboy
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Re: [REVIEW] Jethro Tull - Thick As A Brick

Beitrag von Alexboy »

Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wie viel Du aus den Texten Deiner LPs heraus ließt. Ich bevorzuge die Musik, den Sound und nehme die Stimme mehr als weiteres Instrument war.
Schöne Geschichte mit Deiner Tochter. :clap: :yes:
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Vinyl
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Re: [REVIEW] Jethro Tull - Thick As A Brick

Beitrag von Vinyl »

Toll. Ich freue mich und danke Dir von Herzen :clap: :clap:
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