Die frühen Jahre der Schweizer Rockmusik

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Beatnik
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Die frühen Jahre der Schweizer Rockmusik

Beitrag von Beatnik »

Die Schweiz und Rockmusik. Das ist ein Thema, das mich als direkt Betroffener (Musiker) seit nunmehr 50 Jahren umtreibt. Ein halbes Jahrhundert hat mich die Schweizer Rockmusik inzwischen begleitet. Zwar ist sie mir manchmal ziemlich aus den Augen geraten, da ich lange Jahre ausschliesslich mit deutschen Musikern zusammengearbeitet habe, doch man verfolgt so gut es geht natürlich doch immer auch die Szene in dem Land, in welchem man aufgewachsen ist und seine ersten und wohl für das spätere Leben wichtigsten und prägendsten Eindrücke gesammelt hat. Als Musikfan ist die Schweiz für mich jedoch bis heute interessant geblieben, denn man würde es nicht für möglich halten, wie bunt sich die heutige Schweizer Musikszene noch immer präsentiert. Ab wann genau das Rockvirus auch Schweizer Musiker befiel, lässt sich im Nachhinein nicht mehr ganz eindeutig ausmachen, es gibt jedoch zahlreiche Literatur, welche sich mit dem Schweizer Rock-Phänomen auseinandersetzt, somit ist die Entwicklung eigentlich gut dokumentiert. Was mir persönlich immer auffiel: Es gab in der Schweiz keinen abrupten Wandel vom Beat zum Rock, diese Entwicklung verlief fliessend, indem etablierte Bands sich einfach dem Zeitgeist anpassten und sich wie die Beatles und die Stones, die beiden grossen internationalen Vorbilder, gebärdeten. Der Beat liess sich noch bis etwa Mitte 1968 in der Musik so mancher Schweizer Band ausmachen, danach tauchten auch in der Schweiz die ersten sogenannten Underground Bands in der Szene auf, und wie vielerorts rund um den Globus waren auch in der Schweiz die „Langhaarigen“ nur geduldet und wurden argwöhnisch betrachtet. Polizeipräsenz an so manchem Musikhappening war der Normalfall, hochkriminelle Entgleisungen wie etwa Haschisch rauchen oder allzu leichte Bekleidung der Hippies wurden kompromisslos strafverfolgt. Musikalisch war diese Aufbruchstimmung genauso auszumachen, und es gab spätestens ab dem Sommer 1968 schon einige Schweizer Bands, welche so populär waren, dass sie auch ordentlich viele Schallplatten verkaufen konnten: LPs eher noch wenig, dafür umso mehr Singles.

Wer waren diese Langhaarigen mit dem neuerdings so lauten Sound ? Satisfaction war der Urknall der Rockmusik. Im Mai 1965 veröffentlicht, beinhaltete der Song der Rolling Stones alles, was Rockmusik ausmachte: ein roher Sound, verzerrter und lauter Gitarrenklang, der ein markantes und repetitives Motiv immer und immer wiederholte und als eines der berühmtesten Gitarren-Riffs in die Geschichte der Rockmusik eingehen sollte, ein hart und trocken gespielter Beat und zu guter letzt ein damals als äusserst aggressiv wahrgenommener Gesang eines zappelnden Grossmauls. Heute ein Meilenstein der Rockkultur, war es damals eher ein Schock für weite Teile der Gesellschaft, die darin eine ähnliche Verrohung der Jugend verortete wie knapp 10 Jahr zuvor beim Hüftschwung von Elvis. Der Siegeszug rund um den Globus war jedoch nicht aufzuhalten. In der idyllischen und kleinbürgerlichen Schweiz dauerte es erfahrungsgemäss sehr viel länger, bis sich so ein rebellisches und zügelloses Gebaren durchsetzte. Als erste Musiker, die später Trends zu setzen vermochten, kann man Hardy Hepp und Düde Dürst nennen, die damals vor allem als grosse Fans der englischen Beat- und Rockmusik selber in der kleinen Schweiz reüssieren wollten. Sie erkannten die gerade angesagten Trends und setzten diese in ihren ersten musikalischen Versuchen auch direkt und konsequent um. Auch die Basler Beatband The Sevens oder die später sehr populären Les Sauterelles setzten von Beginn weg auf verzerrte Gitarren in ihren Songs. Mit ihrem Proto-Rock waren sie die Wegbereiter, doch blieben sie dem populären Beat Sound noch treu. Rock konnte sich noch nicht so ganz durchsetzen, doch ähnlich wie in anderen Ländern fegte auch in der Schweiz diesbezüglich schon bald ein musikalischer Tornado durch’s Land, und die musikalische Steinzeit war definitiv Geschichte.

Die Schweiz war kein Land für Rockmusik, sagte der Schlagzeuger Düde Dürst (später Krokodil) einmal. Die Hauptgründe dafür dürften soziostruktureller Art gewesen sein. Denn Rockmusik galt wie der Rock’n‘ Roll in den 50er Jahren als die Musik der Unterprivilegierten und der Arbeiterklasse. Der Mittelstand, der schon damals in der Schweiz besonders stark ausgeprägt war, konnte sich wenig mit dieser Musik identifizieren. Dazu definierte sich Rock mehr als alle Jugendbewegungen zuvor als Gegenkultur zum Kanon des Bürgerlichen. Rock war der Stachel im Fleisch einer Gesellschaft, die von Exponenten der Gegenkultur als verstaubt und verknöchert wahrgenommen wurde. Das passte nicht zusammen. Die Nachkriegszeit war wie überall anders in der Welt das goldene Zeitalter des Jazz und der Tanzorchester, die in den über das Land verstreuten Tanzbuden (in der Schweiz Dancings genannt) sowie in den Winter-Kurorten zum Après Ski aufspielten. Diese Genres blühten in der Schweiz vergleichsweise lange, zum Teil bis in die 70er Jahre, und verhinderten ein rasches Aufkommen der Rockkultur. Umso heftiger war der Zusammenprall, als es am 14. April 1967 zur ersten grossen Begegnung in der Schweiz mit dem neuen Rock Phänomen kam: Beim berühmten Skandalkonzert der Rolling Stones im Hallenstadion in Zürich wurde die Bestuhlung von einem wütenden Publikum in ihre Einzelteile zerlegt.

Rockmusik musste in der Schweiz zweimal anklopfen. Erst der Summer of Love 1967, die Hippie-Zeit sowie die 68er Unruhen, die sich in der Schweiz in den Globus-Krawallen entzündeten, lösten vieles aus. Die Musik wurde lauter, härter und aggressiver. Musiker aus der Beat-Szene wurden vom Rockvirus erfasst. Alles war im Fluss. Rockmusik lieferte den Soundtrack zu den bewegten Zeiten. Die Musiker der Stunde sogen einfach alles auf, spielten Musik ohne Druck und ohne in stilistischen Kategorien zu denken. In einer ersten Phase wurden die internationalen Idole und Vorbilder kopiert. Viele Schweizer Bands waren auf der Suche nach dem eigenen musikalischen Ausdruck. Es wurde kopiert und probiert und schon bald auch ohne Rücksicht auf Verluste experimentiert. Es gab dazu keinerlei Geschäftsmodelle, keinen Businessplan, keine kommerziellen Vorgaben, Einschränkungen und Zwänge. Was zählte, war die Musik und nur die Musik. Entsprechend verspielt klang sie. Es war die wilde, verrückte und abenteuerliche Zeit der Schweizer Rock Pioniere. Doch wer waren diese Rock Pioniere ? Wer war der erste Rockmusiker der Schweiz ? Welches die erste Schweizer Rockband ?

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Beatnik
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Re: Die frühen Jahre der Schweizer Rockmusik

Beitrag von Beatnik »

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Mitte der 60er Jahre spielte der Zürcher Gitarrist Walty Anselmo im Quartett The Hellfire mit seinen Kumpels Instrumentalsongs der Shadows und die berühmten Titel der Beatles. Als Anselmo Anfang 1967 zum ersten Mal Jimi Hendrix auf einer Schallplatte hörte, war er von dem Gehörten schockiert und fasziniert zugleich. Die Sounds, die Hendrix kreierte, liessen ihn nicht mehr los. Er begann mit Rückkoppelungen zu experimentieren, traktierte sein Instrument mit Händen und Füssen und liess es schon bald aufheulen wie sein amerikanisches Vorbild. Im Herbst 1967, an den Vor-Ausscheidungen zum 1. Rhythm And Blues Festival, stellte Anselmo zum ersten Mal seinen neuen, expressiven Stil vor. Die Jury war verstört und stritt sich darüber, ob das noch Musik sei oder doch schon Lärm. Trotzdem qualifizierte sich seine Band Anselmo Trend für das Finale des von Jürg Marquard und seines Magazins Pop organisierten Wettbewerbs im Zürcher Hazyland Club. Dort wurde Anselmo zusammen mit dem St. Galler Dany Rühle zum besten Gitarristen gewählt. Auch der damals 18-jährige Dany Rühle beherrschte seinen Hendrix. Doch wie die Aufnahmen auf der LP zum 1. Schweizer Rhythm And Blues Festival belegen, waren er und seine Ostschweizer Band The Shiver stärker im Blues verwurzelt als die rockigere Variante Anselmo Trend. Dany Rühle sah sich damals eher als Bluesmusiker, sein Vorbild war mehr Eric Clapton als Jimi Hendrix. Im Band Wettbewerb wurde The Shiver zur besten Band gewählt. Doch Anselmo mutierte rasch zum Schweizer Hendrix, und seine Band kann als erste Schweizer Rockband bezeichnet werden. Anselmo Trend war die erste Band, die den Namen als echte Rockband verdiente, schrieb Beat Hirt, der als erster Schweizer Popjournalist damals beim Magazin Pop arbeitete.

Für das berühmte Monsterkonzert Ende Mai 1968 mit Jimi Hendrix im Hallenstadion wurde Anselmo‘s Band als einziger Schweizer Act gebucht. Anselmo-Trend bestanden aber nicht lange. Denn Anselmo schloss sich einem Bandprojekt des Schlagzeugers Düde Dürst an. Dürst initiierte nach seinem Abgang bei Les Sauterelles mit Sänger Hardy Hepp, Mojo Weideli (Blues Harp, Flöte) und Terry Stevens (Bass) die Band Krokodil. Ein progressives, psychedelisches und unkommerzielles Rockungetüm, bei dem man alles, wirklich alles spielen konnte. Krokodil war die erste professionelle Rockband und erste Schweizer Supergroup mit internationaler Ausstrahlung. Doch welches war die erste Studioaufnahme einer Schweizer Rockband ? Krokodil ging Ende 1968, Anfang 1969 für erste Sessions in das SM Studio in Dietikon bei Zürich. Fast zur gleichen Zeit, im Januar 1969, trafen sich die Musiker der neu formierten The Shiver im Soundcraft Studio in Biel von Stefan Sulke (dem Liedermacher). Zuvor war der Organist Jelly Pastorini von Anselmo Trend zur St. Galler Band gestossen und bewirkte mit Rühle einen Stilwechsel vom Rhythm And Blues zum Progressive Rock. In dieser Formation gewann die Band am 10./11. November auch das 2. Schweizer Pop- und R&B-Festival im Zürcher Hazyland und damit einen Plattenvertrag. The Shiver waren schneller als Krokodil. Im Frühjahr 1969 wurde die erste Schweizer Rocksingle „Hey Mr. Holy Man“ veröffentlicht, die sogar mit den Top Ten der Schweizer Hitparade flirtete. Wenig später erschien das Album „Walpurgis“ beim deutschen Label Maris: Das erste Schweizer Rockalbum war geboren. Kein Geringerer als H.R. Giger entwarf die Covers, sowohl für die Single, als auch für das Album. „Walpurgis“ ist ein historisches Schmuckstück mit reizvollen Ausflügen in die Welt des progressiven Rock. Ein wunderbares Dokument aus einer Zeit im Aufbruch. Doch auch ein heterogenes, nicht ganz ausgegorenes Werk zwischen Rockfantasien und Rhythm And Blues. The Shiver hatten ihre Identität noch nicht gefunden. Dazu litten die Aufnahmen leider vor allem am völlig unterdurchschnittlichen Mixdown. Auch die ersten Aufnahmen von Krokodil konnten höheren Ansprüchen nicht genügen. Sie gelangten zum einflussreichen deutschen Musikmanager und Produzenten Sigi Loch (später Chef des Jazzlabels ACT). Er fand sowohl die Band, aber auch die Musik super, aber die Aufnahmen zu wenig professionell.

Die aus rockhistorischer Sicht wichtigen Aufnahmen von Dietikon wurden erst 2014 unter dem Titel „The First Recordings“ veröffentlicht. Loch offerierte der Band stattdessen neue Studioaufnahmen im Mai 1969, die sogleich unter dem Titel „Krokodil“ veröffentlicht wurden. Dazu bot er der Band einen weltweiten Deal mit dem bedeutenden amerikanischen Label Liberty Records an, bei welchem Stars wie Ike & Tina Turner, Canned Heat und Cher unter Vertrag standen. Im Wettstreit um die erste Schweizer Rockaufnahme hatten The Shiver zwar knapp die Nase vorn. Doch die Bedeutung von Krokodil, auch über die Landesgrenzen hinaus, war ungleich grösser. Sie waren die erste Schweizer Band, die einen Deal mit einem weltweit operierenden Label abschliessen konnte. Krokodil waren in ganz Europa unterwegs, spielten auf den grössten Festivals, mit all den berühmten Bands der damaligen internationalen Rockszene. The Shiver lösten sich dagegen noch im selben Jahr auf. Gemäss Dany Rühle war einem Teil der Band die Rockbranche zu unsicher. Sie entschieden sich für einen bürgerlichen Beruf. Rühle und Pastorini aber machten weiter und gründeten die Prog Rock Band Deaf, die bis 1972 bestand. Interessant: In der Endphase der Band sang ein gewisser Marc Storace, der spätere Sänger von Krokus. Deaf war für Storace so etwas wie das Sprungbrett in der Schweiz, sagte dieser rückblickend. In allen Schweizer Regionen bildeten sich kleine Rockzellen. In Solothurn etwa gründete Duco Aeschbach die Band Kaktus. Terrible Noise hiess die Band von Jürg Nägeli und Tommy Kiefer (später Krokus). In Bern gab es Delation um den späteren Grünspan- und Span-Musiker Matti Kohli. The Morlocks, The Black Lions, The Lives und The Livings mit Dänu Stöckli hiessen andere Berner Bands, die Ende der 60er Jahre erste Rockelemente aufnahmen.

Polo Hofer mit The Jetmen und Polo’s Pop Tales war eher mit Rhythm And Blues und Soul verbunden. Ebenfalls 1969 formierte sich in Zürich die Rockband Tusk um den extrovertierten, charismatischen Sänger Ernst Vögeli. Die Single „Child Of My Kingdom“ stiess im Juni 1970 bis auf Platz 7 der Schweizer Hitparade vor. Langsam wurde Rock auch in der Schweiz populär. Es war der erste Schweizer Rocksong, der zum Hit wurde. Zu Albumaufnahmen kam es trotz Angeboten aber nie, was ausgesprochen schade ist, denn Tusk waren drauf und dran, zumindest in qualitativer Hinsicht zu den Schweizer Deep Purple zu mutieren. Plötzlich kamen die Musiker aufgrund dieses Single Hits in diese Maschinerie und waren am Druck, liefern zu müssen, gescheitert, so der damalige Bassist Heinz Gräni. Kurz darauf löste sich die Band Tusk auf. Neben Zürich war Basel das Zentrum der Rock Pioniere. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre scharten sie sich um Keyboarder Joël Vandroogenbroeck. Der belgische Pianist war 1962 nach einem Konzert im Basler Club Atlantis am Rheinknie hängen geblieben und wechselte im Lauf der 60er Jahre ins experimentelle Rockgenre. Er gründete das Trio Third Eclipse, danach mit Cosimo Lampis (Drums) und Werner Fröhlich (Bass) die psychedelische Elektro Prog Rockband Brainticket. Das Konzertpublikum verstand ihre Musik nicht, doch das Marketing des Labels Phonag, die das Debütalbum „Cottonwoodhill“ (1971) als erste LSD-Platte anpries, war ein grosser Erfolg. Die abenteuerliche Mischung aus wabernden Keyboards, elektronischen Effekten und Grooves ist in Sammlerkreisen Kult und soll sich gemäss Vandroogenbroeck bis heute gegen eine Million Mal verkauft haben. Vom Geld sah der belgische Pionier, der Ende 2019 verstarb, aber nie etwas. Vandroogenbroeck zog weiter, und die Basler Musiker Lampis und Fröhlich gründeten 1970 mit dem Gitarristen und Sänger Vic Vergeat die Hardrock Formation Toad, die sich stark an der Musik von Cream und Hendrix orientierte. Die Band landete 1971 mit dem Song „Stay“ einen Top Ten Hit und nahm im selben Jahr ihr Debütalbum „Toad“ auf. Es war das erste Schweizer Hardrock-Album und erstaunlich erfolgreich. Es erreichte in der Hitparade Spitzenränge. Mein jahrzehntelanger guter Freund und musikalischer Mentor, der inzwischen leider verstorbene Ruedy Mauch war für das prägnante Coverdesign mit dem Frosch mitverantwortlich.

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Beatnik
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Re: Die frühen Jahre der Schweizer Rockmusik

Beitrag von Beatnik »

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Die meisten Bands in jener Pionierzeit hatten eine relativ kurze Lebensdauer. Krokodil bestanden immerhin fünf intensive Jahre. 1971 trat Hardy Hepp aus, und nach fünf Alben in fünf Jahren war 1974 definitiv Schluss. Ein wichtiges Kapitel Schweizer Rockgeschichte ging zu Ende. 50 Jahre nach der Gründung wurde das Krokodil wiederbelebt. Die Originale Dürst, Anselmo und Stevens waren noch dabei. Mojo Weideli, der inzwischen gestorben war, und Hardy Hepp fehlten. Hepp hatte sich vom Musikgeschäft zurückgezogen. Neu dabei waren der Sänger und Gitarrist Adrian Weyermann sowie Keyboarder Ernst Strebel. Initialzündung für das Revival war die enorme Nachfrage nach dem Album "An Invisible World Revealed". 1971 aufgenommen, hatte Rechteinhaber Dürst das Album verschiedentlich nachgepresst. Trotzdem hatte die Nachfrage weltweit nie nachgelassen. Bis maximal 2400 Euro kostete ein Album auf der amerikanischen Online Datenbank Discogs. Statt das Album einfach noch einmal zu pressen, hatten die neuformierten Krokodil die Songs neu arrangiert, interpretiert und aufgenommen. Dazu kamen neue Songs von Walty Anselmo. Die alten und neuen Aufnahmen wurden zusammen mit einem 20-seitigen, reich bebilderten Buch veröffentlicht.

Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre waren international erfolgreiche psychedelische Rockbands wie Pink Floyd und Prog Rock Bands wie Procol Harum oder King Crimson erfolgreich und prägend. Helvetische Rock Pioniere wie Krokodil, The Shiver, Deaf, Brainticket, Island und Circus waren Schweizer Pendante, die sich nicht vor der internationalen Konkurrenz zu verstecken brauchten. Ihre Musik ist noch heute sehr populär bei Prog Rock Fans. Led Zeppelin, Deep Purple und Black Sabbath galten 1969 als die Begründer des Hard Rock. Die Schweizer Bands Tusk und Toad waren die Schweizer Pioniere. 1971 wurde ausserdem die Band Tea mit dem späteren Krokus Sänger Marc Storace gegründet. Tea wurden international beachtet und waren die ersten Schweizer Rocker, die in Grossbritannien tourten. Mit ihrer Mischung aus Hard und Prog Rock waren ihre Alben Perlen des Schweizer Hard Rocks. Die zweite Hälfte der 70er Jahre gehörte dem sogenannten Mundart Rock, vor allem der Berner Variante mit Rumpelstilz als deren Flaggschiff. Die Pionier-Rolle von Polo Hofer, Hanery Amman und Schifer Schafer ist unbestritten. Zuerst war der "Warehuus Blues" (1973), "Muschle" (1974), dann "Vogelfuetter" (1975), das erste wichtige Album des Mundart Rock. Aber auch Grünspan, später Span, mischten schon 1974 mit dem Song "Bärner Rock" bei der Geburt des Genres mit. Das erste Mundart Rock Album ist aber nicht, wie viele annehmen, Rumpelstilz' "Vogelfuetter". Schon 1974 hat die Zürcher Band Lise Schlatt ein Album in Zürcher Dialektgesang aufgenommen, den Durchbruch schaffte sie jedoch nicht. Der Sturm des Punk Rock hatte sich in den späten 70er Jahren angekündigt und der Schweizer Punk war mitten drin. Die Nasal Boys, die Frauenbands Liliputh und Kleenex, dann Grauzone mit den Eicher Brothers, Rams mit den Bucks lieferten den Soundtrack zu den 80er Unruhen. LiLiPUT und Kleenex wurden auch international bekannt. Am erfolgreichsten aber waren Krokus. Die Band schaffte 1980 mit dem Album "Metal Rendez-Vous" den grossen Durchbruch. Die Solothurner Hard Rock Band wurde zur mit Abstand erfolgreichsten Schweizer Rockband, auch im Ausland. Keine andere Schweizer Band konnte ihren Erfolg in den USA toppen. Begonnen hatte die Band aber 1976 mit progressivem Rock, mit dem späteren Bassisten Chris von Rohr am Mikrophon. Die erste Krokus LP ist aus meiner Sicht etwas vom Schönsten, was man von einer Schweizer Rockband im Regal stehen haben kann und lohnt sich unbedingt zum entdecken, auch heute noch. Es hat musikalisch jedoch mit dem späteren Hard Rock der Band absolut nichts zu tun. "To You All", ein Jahr später veröffentlicht, markierte den Wendepunkt Richtung Hard Rock. Neben Krokus konnten international nur wenige Schweizer Bands wirkliche Zeichen setzen. Im Rock-Underground schufen aber die Bands von Tom Fischer, Hellhammer und Celtic Frost, stilprägenden Sound im Bereich des Extreme Metal (Death, Black, Speed, Doom). Eine internationale Pionierrolle im Bereich des Industrial Rock (elektronisches Subgenre des harten Rock) nahmen die Genfer The Young Gods ein. Die Band zählt bis heute zu den besten und kreativsten Schweizer Rockcombos.
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Re: Die frühen Jahre der Schweizer Rockmusik

Beitrag von Beatnik »

Wichtige Schweizer Rock-Referenzen und eine Art persönliche "Best Of" aus meiner Sicht.

Les Sauterelles



Tusk



Krokodil



The Shiver



Deaf



Toad



Brainticket



Krokus

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Emma Peel
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Re: Die frühen Jahre der Schweizer Rockmusik

Beitrag von Emma Peel »

Welch eine famose Fleißarbeit und vielen Dank für das Näherbringen und über den Werdegang der schweizerischen Rockmusik. Allerdings ist dieses für mich absolutes Neuland, worin ich mich überhaupt nicht auskenne. Klasse fällt mir nur noch dazu ein. :yes:
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Pidou
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Re: Die frühen Jahre der Schweizer Rockmusik

Beitrag von Pidou »

Sensationell Mäse!!!
Gewaltig deine Zusammenfassung.
Da war ein echter Kenner/Könner am Werk.

Chapeau tief!
Einiges kenne ich, aber weitem nicht alles.

Knuddel aus dem Sandkasten: Pidou

:beer: :prayer: :clap: :wave:
Es gibt Menschen, die haben einen Horizont mit dem Radius Null.
Und dem sagen sie, Standpunkt!
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Louder Than Hell
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Re: Die frühen Jahre der Schweizer Rockmusik

Beitrag von Louder Than Hell »

Welch eine umfassende Ausarbeitung über die Anfänge der schweizerischen Rockszene, die offensichtlich mühsam, aber dann stetig vorankam. Aber auch in Deutschland gab es damals ein ähnlich strukturiertes Generationsproblem. Die Jugend konnte seinerzeit gar nicht genug von diesen sinnflutartigen Neuerungen in Sachen Musik bekommen, während die Älteren, wie auch meine Eltern, dieses als Schund und Hottentottenmusik beschrieben. Wie hat meine Mutter das Album von Krokodil "Getting Up The Morning" gehasst, auf dem schlafmützige Langhaarige dargestellt waren. Und die Geschichte mit den längeren Haaren trifft ja auch heute noch auf mich zu. Auf Unverständnis stieß natürlich auch, dass die Gruppen allesamt englisch sangen. Bevor ich jetzt weiter ins Plaudern gerate, noch einmal vielen Dank für deinen Diskurs in Sachen schweizer Rockmusik.

Einige der von dir erwähnten Bands haben auch hier ein würdiges Zuhause gefunden.

After Shave Skin deep 1972
After Shave Twenty years after 1993
Beatnik Gravity 2006
Big Daddy Beatnik's Blues Unlimited Hardly serious 2006
Blue Motion Same 1980
Cardeilhac Same 1971
Chil Rhubarby feeling 1970
Circus Movin' on 1977
Country Lane Substratum 1973
Dark Side Of Syd Humble and sick 2005
Deaf Same 1972
Drum Circus Magic theatre 1971
Düde Dürst Solo 1971
Ertlif Same 1972
Kedama Live at sunrise studios 1976
Krokodil Same 1969
Krokodil Swamp 1970
Krokodil Psychedelic tapes 1970 - 1972
Krokodil An invisible world revealed 1971
Krokodil Getting up the morning 1972
Krokodil Sweat and swim 1973
Pacific Sound Forget your dream 1972
Refugee Same/ Live in concert 1974 1974
Rumple Stiltzken Comune Wrong from the beginning 1977
Shiver Walpurgis 1969
Spot Same 1971
Starglow Energy Same 1993
Starglow Energy Time machine 1995
Tea Same 1974
Toad Blues united fighting organization 1970
Toad Same 1971
Toad Tomorrow blue 1972
Toad Open Fire Live in Basel 1972
Wegmüller, Walter Tarot 1972
Welcome Same 1976
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