[PORTRAIT] Thin Lizzy - Waisen aus Dublin

Der Beginn - die ersten drei 'irischen' Alben

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badger
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[PORTRAIT] Thin Lizzy - Waisen aus Dublin

Beitrag von badger »

1971 war es wieder einmal John Peel (wer sonst), der mit 'Return Of The Farmer's Son' Thin Lizzy vorstellte:
eine neue irische Band..?... nein, eine neue IRISCHE Band.
Eine ganz andere Band, als die später international erfolgreiche (und längst nicht mehr in Irland verwurzelte) Thin Lizzy.

Zwei Jahre vorher: Brush Shiels entließ Phil Lynott bei Skid Row, brachte ihm zum Trost aber noch das Bassspielen bei.
Der so 'verwaiste' Phil gründete damit ein Waisenhaus (Orphanage), in dem auch ein alter Kumpel,
Drummer Brian Downey ein Zuhause fand.
Aus Belfast kam (wie schon Gary Moore bei Skid Row) Gitarrist Eric Bell, zuvor in einer 'ehrlichen Blues-Band'
namens Shades Of Blue, der zu diesem Zeitpunkt aber sein Geld bei einer verhaßten Showband verdienen mußte.
Nur weg da. Und gleich noch die Idee für den neuen Bandnamen geliefert,
Thin Lizzy; nach einem Kindercomic.

Für Phil war der Erfolg noch wichtiger als für Brian und Eric, denn er hatte nicht die ideale Biografie.
1949 in England geboren, war sein Vater ein afrikanischer Brazilianer, der sich schon vor der Geburt aus dem Staube machte.
Miss Lynott kehrte daraufhin heim nach Dublin, aber man kann sich denken, wie eine ledige Mutter damals in einem
ultra-katholischen Land aufgenommen wurde.

Phil mußte kämpfen, um akzeptiert zu werden und man kann verstehen, daß er seine 'Irishness' auf jede Art und Weise
dokumentieren wollte.
Wie kann ein Musiker und Texter das rascher machen, als durch vielfache und wiederholte Verarbeitung aller möglichen
(und darüber hinaus, auf alle einheimischen Hörer zutreffenden) irischen Themen; von traditioneller Kultur über
(tägliche) Lebensumstände bis hin zur so viele betreffenden Diaspora-Depression.

Eine thematisch so aufgestellte Band braucht sich nicht zu erklären; 'aus dem Volk für das Volk', oder auch:
Wir sind 'Jungs Genau Wie Ihr'.
So tourte man durch alle kleinen Clubs und Ballsäle; verbreitete dabei Botschaften, Erlebnisse und Eindrücke,
die jedem genetisch verwandten Hörer ins Blut gehen mußten,
... während sie gleichsam für Außenstehende nicht wirklich nachvollziehbar waren.

Nur logisch, daß einheimische Fans auf die erste LP warteten: 1971 als 'Same' auf Deram erschienen
(auf CD mit der ersten EP als Bonus), randvoll mit Lieblingsnummern und damit Bildgetränkt mit der so oft zitierten 'Irishness'.

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Los gings mit 'The Friendly Ranger At Clontarf Castle'; eine kleine Geschichte über den Parkwächter der beim damals
jährlich stattfindenden Open-Air-Festival durchaus Verständnis und Hilfsbereitsschaft für die Horde der dort auftauchenden Hippies
gezeigt hatte.
Man kann den Text als solches verstehen, aber nur wenn schon bei Namensnennung das Eingangstor zum Park vor den Augen auftaucht,
wenn man sich an Gesichter und Begebenheiten des jeweiligen Festivals erinnert, geht dieses Stück emotional tief in den Hörer hinein.

Einem Hamburger oder Berliner sagt das natürlich nicht viel, ja selbst in London oder Manchester ist das keine signifikante Aussage.

Mit vielen anderen der (inkl. der ersten EP) 14 Stücken wars genau so.
'Diddie Levine' liefert die Familiengeschichte, so wie sie zwischen Nachbarn erzählt wird, die
sich gegenseitig erinnern wollen; 'wie war das nochmal...';
'Clifton Grange Hotel' besingt einen geschätzten und regelmäßigen Auftrittsort;
'Things Ain't Working Out At The Farm' und anschließend 'Return Of The Farmer's Son' thematisieren
(indirekt) den Generationskonflikt zwischen Farmer und Sohn, aber auch die Tatsache, daß jüngere
Söhne den Hof verlassen mußten; und dann kam der traurige Moment, wo die Freunde am Kay dem
Amerikafahrer zum letzten mal zuwinken; 'Dublin'.

Von Hamburg und Bremen fuhren natürlich auch Schiffe (u.a. fuhr der Bremer Ed Küpper nach Australien, um dort mit u.a.
dem irischen Auswanderer Chris Bailey die sensationellen Saints zu gründen, aber das nur nebenbei...);
in Irland jedoch traf die Notwendigkeit zur Auswanderung einen großen Teil der Bevölkerung und hinterließ tiefe emotionale Spuren.

Immer wieder geht es um Abschied in seinen verschiedenen Formen; selbst in 'Remembering Pt.1' und 'Pt. 2) oder 'Saga Of The Aging Orphan'
in der das älter gewordene Waisenkind noch einmal zurückblickt.
In 'Eire' dann wird gar um Tausend Jahre zurückgeschaut, als sich High Kings und Vikinger so manche Schlacht ums Land lieferten.
Wieder ein Thema, das jeder Zuhörer schon aus der Schule kannte.

Musikalisch wurde das in akustischen Balladen ('Honesty Is No Excuse', 'Saga O.T.A.O.') umgesetzt,
aber da man ein Trio war, kamen auch härtere Töne nicht zu kurz; 'Ray Gun' war Hendrix-inspiriert, mit entsprechend viel Gitarre;
'Remembering' endet in lautem Heavy Rock und 'Return Of The Farmer's Song' war einer jener komplexen Skid Row-ähnlichen Rocker.

Eine hervorragende LP, die das Bühnenerlebnis Thin Lizzy perfekt auf Vinyl bannte.

Shades Of A Blue Orphanage (Deram 1972) war eine Weiterentwicklung des gleichen Konzepts:
textliche Inhalte, die jedem Dubliner und vielen anderen Iren vertraute Bilder im Kopf entstehen ließen, zudem jetzt aber mehr
Trio-Rock gespielt wurde; nicht sehr laut, aber elektrisch: 'The Rise And Dear Demise Of The Funky Nomadic Tribes' liefert diverse Soli
um jeweils Gitarre, Bass und Drums zu betonen; 'Brought Down' ist ein hart abrockender Knaller und auch 'Buffalo Girl', 'Baby Face'
oder 'Call The Police' machen Dampf, wobei immer wieder Melodiewechsel eingebaut werden.
Mit 'Sarah' gabs noch eine romantische Ballade, während 'Chatting Today' bewies, daß man auch mit einer rollende Akkustikgitarre
rockende Stimmung erzeugen kann.

Bild

Der Titelsong (in Verewigung der früheren Gruppen der Bandmitglieder) sollte mit seinen 7 Minuten zum Highlight werden;
ist er doch eine absolute Hommage an die Heimatstadt, in der Orte und Plätze benannt werden, die zum regelmäßigen Lebensumfeld
jedes lokalen Zuhörers gehören und die somit umgehend in die emotionale Blutbahn gehen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Band sich aber schon nach London verändert, wo sie sich bald viele Freunde schufen; den dortigen Iren,
die sich völlig mit Thin Lizzy identifizieren konnten; aber auch den Briten, die vielleicht nicht die erwähnten Örtlichkeiten und
Auswandererprobleme kannten, die aber doch eine starke emotionale Verwandtschaft fanden.

Plötzlich hörte man Thin Lizzy in deutschen Diskotheken. 'Whiskey In The Jar'; 1973 ein Riesenhit.
die Plattenfirma hatte zur Aufnahme des Titels gedrängt, der ganz erfolgreich die Tanzflächen füllte.

Wieviele Tänzer mögen gewußt haben oder daran interessiert gewesen sein, daß es ein Traditional aus dem 17. jahrhundert war
und schon lange zum Repertoire (akkustischer) Folkbands gehörte?
Wer hätte die Geschichte verstanden und wem hätten die besungenen Cork and Kerry Mountains etwas bedeutet?
Und wer hätte verstanden, daß Tradionalisten die Massenverbreitung als Entwertung (!) des Songs empfanden?

Deshalb packte man diese 7" nicht auf die 3. LP 'Vagabonds Of The Western World'; vielleicht auch darum nicht, weil zwischenzeitlich
die Musik deutlich härter gewordewn war.
'The Rocker', selbsterklärend, ist ein hart rockender Powertrip; auch für internationel Zuhörer völlig nachvollziehbar und deshalb
gleich der nächste Charthit, gefolgt von weiteren 7"s wie 'Black Boys On The Corner' oder 'Randolph's Tango'.

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Der Kontakt zur Heimat verblasste durch das Herum-Vagabondieren, auch wenn man in Balladen wie 'Little Girl In Bloom' oder
'A Song For While I'm Away' noch einmal das Erinnern zelebrierte. Mit 'Mama Nature Said' gab es sogar einen frühen
'Umweltbewußtseins-Song'.
Das es sich beim Titelstück um eine Huldigung von 'Playboy Of The Western World' des Schreibers und Dramatikers John Millington Synge
handelte... wer hätte es gewußt?
Das aber der 3/4-Takt mit pumpendem Bass und kräftigen Gitarreneinlagen im Vordergrund stand, nun, das hätte auch ein Eskimo verstanden.

Der internationale Durchbruch war jetzt geschafft und der Bruch in der Band folgte gleich nach.
Eric Bell zog heim, weil er sich hinter Lynott zurückgesetzt sah; zwei neue Gitarristen kamen und hatten keinen Bezug mehr zu Irland.
Die Musik wurde immer massenkompatibler;
Bauarbeiter-Boogie.
Natürlich brachte das Hits fürs einfache Volk und die Bühnen von Amerika bis Japan erhielten Thin Lizzy-Besuch.

Auch natürlich, daß man dennoch in Dublin populär blieb; die späteren Titel kann man sich durchaus ab und zu in den CD-Player legen,
aber jene Band, die 'Stephen's Green' besang (wo vermutlich 90% aller Dubliner Jungs zum ihr erstes 'Date' hatten), oder das 'Stella Kino'
(wo man die Helden amerikanischer B-Movies bewunderte und Thin Lizzy live spielten), diese Band war dahin.

Und alle späteren Platten gehören in eine ganz andere Geschichte.

Phil Lynott kam zurück nach Dublin, wohnte wieder auf der anderen seite des Kanals im nicht ganz so akzeptablen Nachbarviertel;
man sah ihn auch zu Fuß in die Stadt wandern (Rockstars in Irland besaßen zumindestens damals nicht unbedingt Führerschein und Auto);
er hatte keine Berührungsängste und kannte keine Arroganz.

Natürlich gönnte man ihm den Erfolg und ein längeres Leben auch.
Das zweite hat dann leider nicht geklappt.
Heroin ist nunmal kein Lebenselexir.
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Lavender
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Re: [PORTRAIT] Thin Lizzy - Waisen aus Dublin

Beitrag von Lavender »

Sehr schön von der Band mehr zu erfahren. In meiner Sammlung befinden sich neun Alben. Das macht deutlich, dass ich Thin Lizzy auch sehr schätze.
„Musik ist eine Welt für sich, mit einer Sprache, die wir alle verstehen." Stevie Wonder
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Alexboy
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Re: [PORTRAIT] Thin Lizzy - Waisen aus Dublin

Beitrag von Alexboy »

Ansprechender Text! Bist Du vom Fach? :clap: :yes: :beer:
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Emma Peel
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Re: [PORTRAIT] Thin Lizzy - Waisen aus Dublin

Beitrag von Emma Peel »

Es ist natürlich immer wieder schön, wenn jemand wie du über den irischen Background informiert ist und deine Kenntnisse uns teilhaben lässt. Selbst wenn ich die einzelnen Texte Stück für Stück übersetzt hätte, wären mir die bedeutsamen Feinheiten nicht aufgefallen. Du merkst ja selbst im übertragenen Sinn an, dass sich selbst ein Londoner dort wie ein vermeintlicher Ausländer bewegen würde.

Für mich war es eine schöne Reise, den Weg von Thin Lizzy trotz aller Widrigkeiten mitzuverfolgen, der von ihrem aufkeimenden Erfolg und letztlich vom Tod des Machers geprägt war. Leider ein Drama, das sich im normalen Leben immer wiederholt.
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