[REVIEW] Genesis - Nursery Cryme (1971)

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Pavlos
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[REVIEW] Genesis - Nursery Cryme (1971)

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GENESIS - Nursery Cryme (UK, 1971)

Gitarrist Anthony Phillips verließ nach "Trespass“ die Band, weil er sich den zunehmenden körperlichen und mentalen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sah. In diesem Zuge trennten sich Banks, Gabriel und Rutherford auch gleich von Schlagzeuger John Mayhew, der sich ihrer Meinung nach nicht schnell genug mit dem Rest der Band weiterentwickelt hatte. Als Nachfolger kamen zunächst Phil Collins, wenig später Steve Hackett in die Band. Letzterer konnte mit seinem klassisch inspirierten Spiel und vielen (für die damalige Zeit) neuen Ideen und Techniken (Tapping, mehrere Pedale) sofort neue Akzente setzen, während Collins' nuancenreiche Skills die Band endgültig auf das nächsthöhere Level katapultierten. Innerhalb kürzester Zeit mauserten sich Genesis zu einer technisch versierteren, einfach viel stärkeren Einheit, und entwickelte den Stil und Sound ihres Debüts auf ihrem dritten Album weiter. Lyrisch waren die Kompositionen von Literatur, Mythen und Märchen inspiriert, die den Hörer überall hin entführten, nur nicht ins Hier und Jetzt. Mit diesem Gesamtpacket hatte die junge und nun „komplette“ Band schon in etwa ihren Sound für die kommenden Jahre definiert.

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Der Plattentitel „Nursery Cryme“, ein Wortspiel aus nursery rhyme (Kinderreim) und crime (Verbrechen), leitet sich vom phänomenalen Opener 'The Musical Box' ab. Dieser zehneinhalbminütige Song fängt mit viel Leidenschaft, theatralischer Dramatik und dem ständigen Wechsel zwischen ruhigen, melodischen Parts und deutlich härteren, energetischen Passagen mit unglaublicher Dynamik jedes Element klassischer Genesis perfekt ein. Im Text geht es, salopp zusammengefasst, um den achtjährigen Henry Hamilton-Smythe minor, der beim Krocket von seiner neunjährigen Spielgefährtin Cynthia Jane De Blaise-Williams mit deren Krocketschläger erschlagen und enthauptet wird, wenig später als rasch alternder Geist in einer Spieluhr zurückkehrt um von Cynthia sein sexuelles Verlangen nach ihr erfüllt zu bekommen, nur um schließlich vom herbeieilenden Kindermädchen samt der Spieluhr zerstört zu werden. Zwischen den zaghaft folkigen Tönen des Songintros ("Play me Old King Cole...") bis zum erregten, explodierenden Finale ("Won't you touch me, touch me, now, now, now!!") spannt der Track eine musikalische Leinwand, auf der sich das surreale Wortgemälde samt detailierter Prog Musik abspielen kann. Gabriel schlüpft hierbei in keine Rolle, er IST zu jeder Sekunde Henry. Banks und Hackett duellieren sich dermaßen furios im Mittelteil, als ob der neue Mann an der Gitarre dem stoischen Bandchef die musikalische Führung streitig machen wolle. Sein Solo offenbart eine eigene Handschrift, wirkt dabei bis ins kleinste Detail durchkomponiert, es hebt die Qualität des Tracks enorm an und zeigt, welch erstaunliche Qualitäten sich die Band reingeholt hatte. Und wenn am Ende aller Dynamikspielchen und Storywendungen die alles überstrahlende Orgel übernimmt, und Henrys alter Geist mit seinem leidenschaftlichen "Touch me!" Flehen das emotionale Finale einleitet, dann besteht mal wieder kein Zweifel daran, wer verdammt nochmal die besten, nein, die allerbesten Geschichtenerzähler im Prog waren. Das skurrile Artwork zeigt dann auch Cynthia beim Krocket mit mehreren abgetrennten Köpfen, und gibt mit seiner Motiv- und Farbwahl den alten, britischen Geist des Viktorianischen Zeitalters, der in vielen Momenten der Platte haust, hervorragend wieder. Wie eben auch in den 'The Musical Box' Lyrics, die menschliche Urängste zwischen kindlicher Naivität und adoleszenter Lust pendeln lassen, und das dann als eine Art absurdes Märchen präsentieren.

Das verträumte 'The Fountain of Salmacis' und das härtere 'The Return of the Giant Hogweed' sind die beiden anderen Großtaten des Albums und zeigen mit ihrer unnachahmlichen Strahlkraft die Musik von Genesis von ihrer epischsten und märchenhaftesten Seite. In 'The Return Of The Giant Hogweed' wird auf satirische Weise beschrieben, wie eine britische Expedition in den Kaukasus mit einem Exemplar des extrem giftigen Riesen-Bärklaus zurückkehrt, dieser sich rapide in London verselbstständigt und ausbreitet, dabei immer größer, aggressiver und monströser wird, und schließlich der ganzen Menschheit den Krieg erklärt. Die Keyboards schieben den ständig Song voran, die Instrumente verdeutlichen mit kleinen Details, wie die Pflanzen gefährlich wuchern und sich ausbreiten. Gabriel schlüpft mit seinem extravaganten Gesang in verschiedene Rollen, wie er es fortan regelmässig tun sollte. Hacketts Tapping im Soloteil hat Pioniercharakter, das kann man nicht oft genug unterstreichen.

Im von der griechischen Mythologie inspirierten 'The Fountain Of Salmacis' findet ein Jäger einen See, der alle, die darin baden, in Zwitter verwandelt. Anschwellende Streicherklänge und Orgel-Appregios eröffnen das Stück und zeigen einen jungen Banks, der hier den Bandsound mit seinen Tasteninstrumenten dominiert und dabei zu absoluter Hochform aufläuft. Ich sage es nochmal, die Jungs waren damals alle Anfang 20, let that sink in! Im Mittelteil übernehmen dann Bass und Drums mit einem genialen, mal treibenden, mal "hüpfenden" Rhythmus, über dem sich Hackett bis hin zum Finale frei austoben kann. Sein Spiel, seine Soli, seine Techniken strotzen vor Genialität und passiver Extrovertiertheit. Es muss nicht nach außen den Großen markieren, seine Töne übernehmen dies für ihn - und somit ist er das Gegenteil von seinem verschlossenen Vorgänger Anthony Phillips und die perfekte Wahl für eine junge, aufstrebende Band, wie es Genesis Anfang der 70er waren.

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Und auch die restlichen Lieder können überzeugen. Wie z.B. 'For Absent Friends', ein rührendes Gitarren-Zwischenspiel, das von den beiden Neulingen Collins und Hackett geschrieben, und sogar vom Schlagzeuger alleine gesungen werden darf. Der Text hier mag zunächst banal erscheinen, zwei Witwen besuchen eine Kirche und sinnieren über das Leben und verstorbene Freunde und Familienmitglieder, aber es ist die Tiefe der Worte, mit denen klitzekleine Beobachtungen beschrieben werden, die diesen Track zu Herzen gehen lässt („Looking back to days of four instead of two, years seem so few, heads bent in prayer for friends not there“).

Im Gegensatz dazu steht dann das fröhlich klingende 'Harold The Barrel', das Gabriels schrägen Humor und seine äußerst verdrehten Texte demonstriert. Der junge Harold ist seines Lebens müde und will sich aus dem Fenster stürzen, wird dabei aber von seiner bevormundenden Mutter, die wohl der Grund für sein Vorhaben zu sein scheint, zurückgehalten. Mama ist über die Idee ihres Sohnemanns empört und macht sich Sorgen, was denn die Nachbarn über so eine Aktion denken werden. Außerdem stünde schon ein neugieriges TV Team vorm Haus, und mit einem schmutzigen Hemd springt man ihrer Meinung nach schon mal gar nicht freiwillig in den Tod. Schaulustige gesellen sich dazu und kommentieren den Monty Pythonesquen Dialog zwischen Mutter und Sohn, als Harold am Ende plötzlich dann doch seinen Plan in die Tat umsetzt. Ein schrulliger Text über ein (tod)ernstes Thema, begleitet von farbenfrohen Akkorden und kleinen, bissigen Kommentaren der Band zum damaligen Zeitgeist.

'Seven Stones' ist im Grunde eine wunderschöne, melodische kleine Melodie, die sich ,getragen von Banks' Mellotronklängen und Gabriels hymnischen Gesangslinien, von Strophe zu Strophe steigert, dabei musikalisch noch am ehesten an "Trespass" erinnert, und am Ende in einem explodierenden, majästetischen Finale mündet, dass seinesgleichen sucht – auch im Oeuvre der Band selbst, wohlgemerkt. Banks spielt hier übrigens das von King Crimson auf deren Debüt benutztes Mellotron, welches er kurz zuvor Robert Fripp abgekauft hatte. Die düsteren Lyrics befassen sich mit der Unabwendbarkeit des Schicksals und der Sinnlosigkeit, den Lauf der Dinge verstehen oder gar ändern zu wollen.

Das dreiminütige 'Harlequin' eint nochmal Gabriel und Collins im Gesang und zeigt, wie wertvoll der neue Schlagzeuger auch als Backgroundsänger für die Weiterentwicklung der Band war. Obwohl Gabriel natürlich weiterhin der unantastbare Frontmann der Truppe blieb, begann Collins' unverwechselbare Stimme hier schon durchzuscheinen. Sein Gesang verlieh dem Genesis Sound eine neue Dimension, verschmolz dabei nahtlos mit dem von Gabriel, und deutete schon zu seinem Einstand auf das Charisma und die stimmliche Stärke, die später seine Solokarriere prägen sollte. Erneut liefert die Band einen deepen Text („There was once a harvest in this land, reap from the turquoise sky, harlequin, harlequin. Dancing round, three children fill the glade, theirs was the laughter in the winding stream, and in between“ entführt den Hörer einmal wieder direkt ins Viktorianische Zeitalter), aber insgesamt bleibt mir die Nummer einfach zu blass, zu monoton. Ich möchte nicht von einem wirklichen Schwachpunkt sprechen, dafür ist der erzielte Effekt von Musik und Text zu gelungen, aber der Unterschied zu den restlichen Tracks ist dann doch zu offensichtlich. Der Legende nach wollte Rutherford die Nummer damals auch gar nicht aufnehmen.

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Trotz dieses kleinen "Ausrutschers" bleibt "Nursery Cryme" ein Wahnsinnsalbum. Alle Songs klingen verschieden und dadurch individuell, bilden aber im Gesamten dann doch eine perfekte Einheit. Kritiker bemängeln den ungeschliffenen Klang der Platte, aber genau diese rohe Power ist es, die perfekt zu den wahnwitzigen Songs des Albums passt. „Nursery Cryme“ wird gerne mal unterschätzt, überraschenderweise auch von der Band selbst, aber wer sich auf die faszinierende Magie dieser im wahrsten Sinne des Wortes bezaubernden Platte einlässt, dabei mit ängstlichen Blick die Spieluhr aufzieht, ehrfürchtig den Riesen-Bärklau gießt, und im Anschluss mutig Salmakis und Hermaproditos bei der Hand nimmt und in deren Quelle badet, der wird den Schlüssel für eine Rückkehr aus dieser musikalischen Welt für immer wegwerfen.

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Beatnik
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Re: [REVIEW] Genesis - Nursery Cryme (1971)

Beitrag von Beatnik »

Wow, ganz tolle Rezi, lieber Pavlos. Bleibt mir ja gar nichts anderes übrig, als das Album auch gleich aufzulegen. Möchte ich wegen des schönen Designs unbedingt auch noch als Vinyl haben, hier steht bislang nur eine frühe remasterte CD Version. Hackett ist einfach genial, und Tony Banks' manchmal schwierig wirkende Kreativität hier kaum zu schlagen. Ich finde auch, dass die LP eher immer etwas unter dem Radar flog. :yes:
Accept what is, let go of what was and have faith in what will be.

Die wunderbare Zumutung, selbst denken dürfen zu müssen.
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Sirius
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Re: [REVIEW] Genesis - Nursery Cryme (1971)

Beitrag von Sirius »

Nursery Crime kommt bei mir direkt nach Selling England By The Pound, noch vor Foxtrot und The Lamb Lies Down On Broadway.
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Emma Peel
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Re: [REVIEW] Genesis - Nursery Cryme (1971)

Beitrag von Emma Peel »

Sicherlich ein wegweisendes Album der Band, die sich seit der Einspielung von "Trespass" fest im Bereich des Progs verankert hatte und somit so zu einer der tragenden Säulen dieses Genre wurde.

Wort- und Inhaltsreich hast dieses Album beschrieben und entsprechend in Szene gesetzt. Schöne Rezi ....
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Alexboy
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Re: [REVIEW] Genesis - Nursery Cryme (1971)

Beitrag von Alexboy »

Sollte ich irgendwann einmal auch eine derartig wortgewaltige Beschreibung eines Albums zustande bringen, dann ... :twisted:
- bleibt wohl eher mein Traum! :clap: :yes: :wave:
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Lavender
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Re: [REVIEW] Genesis - Nursery Cryme (1971)

Beitrag von Lavender »

:clap: Da kann ich den vorherigen Stellungnahmen nur zustimmen. Klasse lesenswerte und äußerst informative Rezension.
„Musik ist eine Welt für sich, mit einer Sprache, die wir alle verstehen." Stevie Wonder
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Louder Than Hell
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Re: [REVIEW] Genesis - Nursery Cryme (1971)

Beitrag von Louder Than Hell »

Ich bin ein Kind dieser Zeit gewesen und habe Genesis ab dem Jahre 1973 nachhaltig kennen- und schätzen gelernt. Insofern hatte ich auch das Glück, Konzerte in dem folgendem Zeitfenster mitverfolgen zu dürfen. Und so lange Peter Gabriel dabei war, gab es in Sachen Bühnenshows immer jede Menge an Überraschungen.

Nun zu deiner Rezi: Es war für mich eine Freude, deinen Zeilen zu folgen. Deine damit verbundenen Gefühle spiegeln letztlich auch das wider, was ich für dieses Album empfinde. Stücke wie "The Return of the Giant Hogweed " oder "The Musical Box" schreibt man nicht jeden Tag, gehören aber sicherlich zum Tafelsilber des Progs.
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BRAIN
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Re: [REVIEW] Genesis - Nursery Cryme (1971)

Beitrag von BRAIN »

Die Details, mit der du die Entwicklung von Genesis während dieser Ära schilderst, ist wirklich faszinierend.
Besonders deine Analyse von The Musical Box und die lyrische Interpretation von The Fountain of Salmacis haben sind beeindruckt – du verstehst es, die Musik nicht nur zu hören, sondern ihre Geschichten lebendig werden zu lassen.
Auch deine Einordnung der einzelnen Musiker und ihrer Rollen innerhalb der Band zeigt, wie fundiert deine Kenntnis über Genesis ist.
Steve Hackett und Tony Banks bekommen die verdiente Aufmerksamkeit für ihre kreativen Höhenflüge, die dieses Album zu einem echten Meisterwerk machen.
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