Als dieses zweite Album der britischen Formation 999 im September 1978 erscheint, ist noch deutlicher als bei ihrem Plattendebut erkennbar, dass sich hinter dieser brillianten vermeintlichen Punk Band eine grossartige Combo verbirgt, die sich wesentlich mehr musikalische Qualitäten auf ihre Weste schreiben darf als blosses Pogo-Gehabe. Im Grunde sind 999 etwa soviel Punk wie die Labelkollegen The Stranglers. Wo Letztere allerdings viel Art Rock Elemente in ihrem Sound zeigen, weisen 999 eher den bodenständigen Rock'n'Roll der 60er Jahre als stilistisches Merkmal auf. Punk im eigentlichen Sinne ist die Band aber auch alleine schon optisch nicht wirklich. Ihr schon fast popperhaftes, eher grellbuntes Erscheinungsbild (das die Gruppe auch auf ihren ersten Plattencovers zeigt) verrät eher eine Nähe zum bunten und flippigen Kunststil eines Andy Warhol. Verwurzelt einerseits im wilden 60's Rock'n'Roll etwa der Kinks, klingen 999 spätestens hier auf diesem zweiten Album schon frappant wie eine ausgewachsene Power Pop Gruppe, die sich vielleicht am ehesten noch mit dem 'sogenannten' Punk der Gruppe The Clash vergleichen lässt, ansonsten aber einfach mächtig Dampf macht und unheimlich Spass bereitet.
Gegründet im englischen Northampton, startet die Gruppe unter dem Namen 48 Hours, benannt nach einem gleichnamigen Song der Band The Clash. In 999 benennen sich die Jungs dann um, als sie in London Fuss gefasst haben und sich in der dortigen Punk-Szene rasch einen Namen als schmutzige, schnelle und rotzige Live-Band schaffen. Frontmann Nick Cash (mit gebürtigem Namen Keith Lucas) ist kein Unbekannter: Er war schon Mitte der 70er Jahre Mitglied der legendären Combo Kilburn & The High Roads, der Band von Ian Dury gewesen. Im Sog der Punkwelle veröffentlichen 999 im Juli 1977 ihre erste, selbstproduzierte und auf dem eigenen Label Labritain veröffentlichte Single "I'm Alive", die klassische Rock'n'Roll-Muster britischer Prägung erkennen lässt, durch den exaltierten Gesang von Nick Cash aber recht hörbar ins Punk-Raster passt. Sowohl Fans wie Kritiker mögen diese Single sehr und bescheren der Gruppe alsbald einen gewissen Geheimtipp-Status unter Kennern. Einer dieser Fans ist auch der legendäre John Peel, der die Single im Radio rauf und runter nudelt, bis schliesslich auch die Talentscouts von United Artists Records auf die Jungs aufmerksam werden und ihnen einen Plattenvertrag servieren. Nicht nur haben 999 oft und erfolgreich im angesagten Punk-Club The Hope & Anchor gespielt, sie sind dort auch mit den Lokalmatadoren The Stranglers aufgetreten, die ebenfalls bei United Artists unter Vertrag stehen.
999 bestehen von Anfang an aus Nick Cash, dem Gitarristen Guy Days, dem Bassisten Jon Watson und dem Schlagzeuger Pablo Labritain und spielen in der Folge einige Singles für United Artists ein, die allesamt auffällig bunt daherkommen (meist in farbigem, z.B. grell-grünem Vinyl) und sowohl Punk-, wie Pop-Muster aufweisen, die ihre Wirkung beim Publikum nicht verfehlen. Schon bei diesen frühen Singles kann man Elemente des Power Pop Sounds erkennen: "Me And My Desire", "Emergency" oder "Nasty Nasty" verfügen über fast unanständig gute mehrstimmige Refrains, die einfach hängen bleiben im Kopf und klar machen, dass hier eine Band am Werk ist, die ihren Fokus wesentlich stärker auf Qualität ausgerichtet hat als auf Stecknadeln.
Eines der typischen Merkmale des britischen Frühpunks war, dass etliche Band zumeist nur einige wenige Singles veröffentlichten (wenn überhaupt), weshalb es schon früh auch etliche Punk Sampler zu kaufen gab, auf denen Bands zu hören waren, die selber kaum je eine grössere Kundschaft erreichen konnten als bestenfalls die brettharten Fans, die an ihre Konzerte pilgerten. Von den grossen Plattenfirmen gab es zumindest zwei, welche je einen kommerziell sehr erfolgreichen Sampler zusammengestellt hatten. Beide erschienen im Frühjahr 1978 und auf beiden waren auch Songs der Gruppe 999 zu hören: Auf Warner Brothers erschien der Sampler "Front Row Festival" und bei Polydor die Zusammenstellung "20 Of Another Kind", beide heute noch als Sammlerobjekte sehr begehrt. 1978 war auch das Jahr von 999: Beide LP's erschienen in diesem Jahr.
Das Debutalbum, schlicht "999" betitelt, erscheint im März, erreicht lediglich einen enttäuschenden Rang 53 in den Charts und ist nach einer Woche auch schon wieder verschwunden aus den Listen. Dies bezieht sich ja aber nur auf die Verkaufszahlen - live ist die Band weitaus erfolgreicher. Schon im Herbst wird die zweite LP "Separates" nachgereicht und die ist sowohl technisch, wie auch kompositorisch wesentlich ausgereifter als das Debutalbum. Produziert wird die LP "Separates" von Martin Rushent, dem zu jenem Zeitpunkt bereits legendären Produzenten, der seit den frühen 70er Jahren etliche Meisterwerke der Rockmusik produziert hat, etwa von Curved Air, Danny Kirwan, Dr. Feelgood, XTC oder den Punk-Vertretern The Buzzcocks und The Stranglers. Die schiere Wucht der Stranglers Produktion "Rattus Norvegicus IV" ist in Ansätzen auch auf dem 999 Album "Separates" zu hören, was die Platte insgesamt noch näher zum Bereich Power Pop schiebt. Punk klingt dreckiger, dilettantischer und roher - 999 dagegen sind die Rocker mit dem goldenen Herzen und spielen durchaus anspruchsvollen, dennoch druckvollen Sound, der sich letztlich wie ein Amalgam aus The Kinks und The Stranglers anhört.
"Separates" ist gemessen an den Verkaufszahlen wieder eher ein Misserfolg, die Platte erreicht nicht einmal die Charts. Nur die daraus ausgekoppelte Single "Homicide", ein Titel, der später auch auf zahlreichen Punk-Samplern zu finden sein wird, findet den Weg in die britische Hitparade und beschert der Band auch einen Auftritt samt entsprechendem Live-Videoclip in der Sendung "Top Of The Pops". Die Gruppe um Nick Cash tourt emsig weiter, spielt auch Tourneen in Amerika, wo ihre LP später unter dem irreführenden Namen "High Energy Plan" dem Publikum mit einer veränderten Tracklist nachgereicht wird - um auch dort quasi sang- und klanglos unterzugehen. Nach einem Autounfall von Schlagzeuger Pablo Labritain, der zwischenzeitlich durch Ed Case ersetzt wird, gerät die Band ein wenig aus der Spur, macht aber wieder ernsthaft weiter, als Pablo Labritain wiedergenesen zur Band zurück kommt. Die Gruppe wechselt zu Radar Records und später zu Polydor und danach zu insgesamt 14 (!!) weiteren Kleinstlabels, wo sie kontinuierlich weitere Platten veröffentlichen.
999 sind auch heute noch aktiv und spielen regelmässig unter anderem am alljährlichen britischen Punk Festival "Holidays In The Sun" und begeistern noch immer junge und ältere Punk-Fans mit ihrem sehr unterhaltsamen und auch vielseitigen Power Pop Punk Rock'n'Roll, oder wie immer man ihren tollen Sound bezeichnen mag. Neben den originalen Bandmitgliedern Cash, Days und Labritain kommt mit Arturo Bassick der ehemalige Bassist der Formation The Lurkers neu hinzu. 2023 markiert das 47-jährige Bestehen der Band, die nachwievor regelmässig durch England tourt.
"Separates" ist ein kerniges, in seiner Grundstruktur punkiges Power Pop/Rock-Werk, das man sich auch nach fast 45 Jahren noch immer mit viel Spass anhören kann.
[REVIEW] 999 • Separates (1979)
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[REVIEW] 999 • Separates (1979)
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Re: [REVIEW] 999 • Separates (1979)
Damit deine gelungene Rezi nicht ganz so jungfräulich bleibt, einige Anmerkungen von mir dazu.
Sang einst Graham Bonney "Wähle 333 auf Telefon" ist hier allerdings die in England bestehende Notrufnummer "999" als Bandtitel auserwählt worden. Dem Punkruf folgend, gründete sich die Band im Jahre 1976 durch die seit langem befreundeten Gitarristen Gene Carsons und Keith Lucas. Allerdings waren sie nie Freunde des rasend schnell gespielten Punk, sondern verdingten sich mehr im Midtempo gehaltenen Stil. Und wie bereits von Beatnik angemerkt, unterschied sich ihr Outfit erheblich von Gruppen, die im speckigen und zerrissenen Leder bzw. mit diversen Sicherheitsnadeln bestückt auftraten. Sie bestachen optisch mehr auf eine Art Poppunks in bunter Bekleidung.
Das tat ihrer Musik aber keinen Abbruch, denn sowohl das selbstbetitelte Debüt, als auch die Folgeplatte "Seperates" fanden durchaus reißende Abnehmer. Somit gliederten sie sich in ein Heer neuer Bands ein, die den alteingesessener Dinosauriern ordentlich Dampf unter dem Hintern machten und eine neue Musikart als richtungsweisenden Weg mit erspielten.
Was mir an den "999" so gut gefiel, war ihre Eingängigkeit mit Refraincharaker. Und dieses kam bei den Fans besonders gut an. Ein weiteres Merkmal zeichnete die Band aus, sie beherrschten ihre Instrumente und konnten richtig gut spielen, was Keith Lucas bereits zuvor bei den "Kilburn And The High Roads" bewiesen hatte.
Sie konnten auch in den Songs das Tempo anziehen, wie es die Stücke "Let's Face It" und "High Energy Plan" beweisen. Aber ein Stück überstrahlt das Album und zwar das ein wenig stoneslastige "Homicide", eine Hymne für die Ewigkeit.
Sang einst Graham Bonney "Wähle 333 auf Telefon" ist hier allerdings die in England bestehende Notrufnummer "999" als Bandtitel auserwählt worden. Dem Punkruf folgend, gründete sich die Band im Jahre 1976 durch die seit langem befreundeten Gitarristen Gene Carsons und Keith Lucas. Allerdings waren sie nie Freunde des rasend schnell gespielten Punk, sondern verdingten sich mehr im Midtempo gehaltenen Stil. Und wie bereits von Beatnik angemerkt, unterschied sich ihr Outfit erheblich von Gruppen, die im speckigen und zerrissenen Leder bzw. mit diversen Sicherheitsnadeln bestückt auftraten. Sie bestachen optisch mehr auf eine Art Poppunks in bunter Bekleidung.
Das tat ihrer Musik aber keinen Abbruch, denn sowohl das selbstbetitelte Debüt, als auch die Folgeplatte "Seperates" fanden durchaus reißende Abnehmer. Somit gliederten sie sich in ein Heer neuer Bands ein, die den alteingesessener Dinosauriern ordentlich Dampf unter dem Hintern machten und eine neue Musikart als richtungsweisenden Weg mit erspielten.
Was mir an den "999" so gut gefiel, war ihre Eingängigkeit mit Refraincharaker. Und dieses kam bei den Fans besonders gut an. Ein weiteres Merkmal zeichnete die Band aus, sie beherrschten ihre Instrumente und konnten richtig gut spielen, was Keith Lucas bereits zuvor bei den "Kilburn And The High Roads" bewiesen hatte.
Sie konnten auch in den Songs das Tempo anziehen, wie es die Stücke "Let's Face It" und "High Energy Plan" beweisen. Aber ein Stück überstrahlt das Album und zwar das ein wenig stoneslastige "Homicide", eine Hymne für die Ewigkeit.
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Re: [REVIEW] 999 • Separates (1979)
Ich habe die Compi-CD mit den 2 ersten Scheiben.
Mir gefällt auch die Melodiösität der Band.
Allein schon wegen Homicide lege ich die CD gerne ein.
Alle Songs haben nicht die Energie von Homicide aber alles in allem waren die 2 Alben gut und gehören in jede UK-Punk Sammlung.
Mir gefällt auch die Melodiösität der Band.
Allein schon wegen Homicide lege ich die CD gerne ein.
Alle Songs haben nicht die Energie von Homicide aber alles in allem waren die 2 Alben gut und gehören in jede UK-Punk Sammlung.