
CAMEL - (Music Inspired By) The Snow Goose (UK, 1975)
Nachdem sich Camel auf "Mirage" von „Der Herr der Ringe“ zu einer Mini-Suite ('The White Rider') haben inspirieren lassen, will man diesmal einen Schritt weiter gehen und mittels eines Konzeptalbums einen ganzen Roman vertonen. Zur Auswahl stehen anfangs "Steppenwolf" und „Siddartha“ von Herman Hesse, letztendlich entscheidet sich die Band aber für Paul Gallicos "Die Schneegans", einer Parabel auf Freundschaft, Liebe und Krieg. Als der Autor davon Wind bekommt, will er Mitspracherecht in Sachen Lyrics, Artwork und der Auswahl der Sprecher für die zunächst geplanten spoken words Passagen. Doch Latimer & Co. haben keine Lust, sich so massiv in ihr Schaffen reinreden zu lassen, werfen die Texte enttäuscht in den Papierkorb und überarbeiten ihr Material derart, dass sie die Musik als reine Instrumentalscheibe rausbringen können. Außerdem wird der "The Snow Goose" Titel noch um ein „music inspired by“ ergänzt um rechtlichen Probleme mit dem Autor aus dem Weg zu gehen.

Im Vergleich zu "Mirage“ klingt die Band nun elegisch und ruhiger, die Melancholie und Tiefe der Buchvorlage ist allgegenwärtig. Die Lieder fallen symphonischer, ausgefeilter und atmosphärischer als alles auf den ersten beiden Alben aus und enthalten einige der stärksten Melodien und Themen der Band. Einige Passagen bekommen zudem Orchestrierungen verpasst, was einen sehr voluminösen und beeindruckenden Klang erzeugt. Latimer greift an vielen Stellen auch zur Flöte. Die meisten der 16 Stücke sind eher kurz gehalten, gehen fließend ineinander über und erzeugen somit einen 45-minütigen, konstanten Flow. Jedes dieser Kapitel besticht mit außergewöhnlich schönen Melodien, instrumentalen Brückenschlägen und Latimers hochemotionalem Gitarrenspiel. Komplex wird es nur einige wenige Male, das Entfalten und Präsentieren von Handlung und Atmosphäre, ohne dabei Worte zu benutzen, ist hier die wahre progressive Kunst. In Verbindung mit den Songtiteln lässt das Gehörte einen Film vor dem Auge des Hörers ablaufen, und das funktioniert wie gesagt auch ohne Texte ganz wunderbar, aber wer die Schneegans wirklich zähmen und mit ihr wie Nils Holgersson auf seinem geflügelten Freund Martin davonfliegen will, wer also das maximale Hörerlebnis erleben will, der sollte Gallicos Geschichte zumindest in groben Zügen kennen. Was folgt, ist ein Versuch einer Inhaltsangabe. Vielleicht kann ich ja den ein oder anderen hier für diesen reizenden Stoff begeistern:
Die Geschichte spielt im England der späten 30er Jahre vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Der verkrüpelte Maler Rhayader wohnt alleine in einem alten, verlassenen Leuchtturm, welcher sich vollkommen abgeschieden am Großen Marsch, einem unwirtschaftlichen Landstrich an der Küste von Essex, befindet ('The Great Marsh'). Neben der Malerei kümmert er sich jedes Jahr liebevoll um all die Zugvögel, die in der Nähe des Leuchtturms überwintern. Das ist es, was er als seine Bestimmung ansieht und was ihm am meisten Freude bereitet ('Rhayader'). Mit Menschen will er nichts zu tun haben, da sie ihn aufgrund seines Erscheinungsbildes meistens beaugapfeln und ihm misstrauen, kommt aber nicht drum herum, ab und an ins benachbarte Dorf fahren zu müssen um Besorgungen zu machen ('Rhayader Goes To Town'). Eines Tages kommt eine junge Frau namens Fritha mit einer verwundeten Schneegans zum Leuchtturm, da sie gehört hat, dass der "seltsame, alte Mann" dem Vogel vielleicht helfen kann ('Fritha'). Und tatsächlich schaffen es Fritha und Rhayader den Vogel nach und nach aufzupäppeln und freunden sich in dieser Zeit auch miteinander an ('Friendship'). Als die Gans schließlich vollständig genesen ist, fliegt sie davon ('Migration'), und Rhayader ist wieder allein ('Rhayader Alone'), da Fritha nun keinen Grund mehr sieht, dem Turm einen Besuch abzustatten. Im Folgejahr jedoch taucht die Gans wieder auf ('Flight Of The Snow Goose'), und die drei Freunde sind wieder vereint. Der Mann merkt, wie sehr er Fritha in der Zwischenzeit vermisst hat, ist aber seiner Gefühle ihr gegenüber nicht ganz sicher. Dafür bleibt aber auch nicht wirklich Zeit, denn Rhayader bereitet sich darauf vor, mit seinem Kutter bei der Evakuierung britischer Soldaten bei der Schlacht um Dünnkirchen zu helfen ('Preperation'). Dabei gelingt es ihm trotz massiven Beschusses seitens der Deutschen mehrere Personen mit seinem Boot in Sicherheit zu bringen ('Dunkirk'), bei seiner letzten Fahrt jedoch wird sein Kutter dann doch noch getroffen, und Rhayader geht unter und stirbt ('Epitaph'). Die Gans, die während Rhayadrs Rettungsaktion die ganze Zeit über mutig über dem Boot des Malers mitflog, dreht ein paar Runden über dessen Wassergrab und fliegt zurück zu Fritha, die vor dem Leuchtturm auf beide gewartet hat ('Fritha Alone'). Der Turm jedoch wurde mittlerweile von deutschen Kampffliegern kaputtgebombt. Das einzige, was die junge Frau aus dem Trümmern bergen kann, ist ein von Rhayader gemaltes Bild, das eine junge Fritha mit einer verletzten Gans in ihren Armen zeigt. Sie erkennt die Gefühle des Mannes ihr gegenüber, gibt dem Vogel, in dem sie die Seele Rhayaders sieht, die sich nochmal von ihr verabschieden will, einen Namen ('La Princesse Perdue' = die verlorene Prinzessin) und lässt ihn davonfliegen.
Soviel zur wirklich lesenswerten Geschichte selbst, aber was aus Musik und Story eine zu Herzen gehende Angelegenheit für Musikfreaks macht, ist, wie die Band es schafft, die Handlung mit Tönen darzustellen. Die Einsamkeit Rhayaders, der im Innern ein feiner Kerl ist, dies aber niemandem zeigen kann und sich enttäuscht in seine Kunst zurückzieht. Das anfängliche Misstrauen Frithas ihm gegenüber, aber auch ihr Bedürfnis, der Gans zu helfen. Die sich langsam aufbauende Bindung zwischen Mann, Frau und Tier, wie alle zusammen harmoniren und der Vogel seine Flügel ausbreitet und zum Flug abhebt. Die gefährlichen Rettungsfahrten zwischen all den Bomben und Toten, sowie der Tod des Protagonisten und der Schmerz der Hinterbliebenen. Wie all die Motive immer wieder wiederholt und dabei dezent variiert werden, wie Gefühle hörbar gemacht werden, wie die Entwicklung der Beziehung zwischen den drei Freunden emotional nachvollziehbar dargestellt wird, das alles ist so genau, so berührend und dabei wunderschön gespielt, dass ich die Platte hier eigentlich auf Platz Eins führen müsste. Ohne Flachs, von all den Scheiben in meiner Liste ist die emotionale Bindung zu "The Snow Goose" wohl die stärkste. "When life speaks, its voice is music. Listen." hatten Yes mal in einem Tourheft stehen. Gallicos Erzählung geht zu Herzen, Camels Vertonung ebenso, es gibt so viel zu entdecken.

2013 durfte ich "The Snow Goose" dann auch endlich mal live erleben, als Camel in Mannheim auftraten und das Album komplett aufführten. Als ich dabei Andy Latimer, diesem verhinderten Giganten des Classic Prog, so bei seinem virtuosen Spiel zusah und an die turbulente und ungerechte Geschichte dieser extrem talentierten Band nachdachte (die harten early years, dann für kurze Zeit Erfolg, danach die ersten Streitereien, der unverdiente Abstieg, der Tod Peter Bardens, die Krankheiten Latimers), erwischte ich mich dabei, wie ich ständig mit einem Kloß im Hals zu kämpfen hatte. Aber das war nicht weiter schlimm, denn um mich herum ging es allen anderen auch so. Camel, ey. Was für eine Band, was für ein Album, ich schmelze dahin.