[REVIEW] Re-Flex • Re-Fuse 6CD Box Set (2010)

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Beatnik
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[REVIEW] Re-Flex • Re-Fuse 6CD Box Set (2010)

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Versucht mal, Euch folgendes Szenario vorzustellen: Da gelingt einer Band quasi aus dem Nichts heraus ein Nummer 1 Hit, weil er so ganz und gar dem vorherrschenden musikalischen Trend im Bereich Dancefloor entspricht. Eine der grössten Plattenfirmen der Welt schnappt sich die Truppe und serviert ihr einen lukrativen Plattenvertrag. Die Gruppe nimmt eine LP auf und die verkauft sich exzellent. Doch dann gehen alle Lichter aus, fertig Schluss. Die Plattenfirma lehnt eine zweite LP ab, eine dritte LP ab, ja sogar eine vierte LP. Unbeirrt macht die Band weiter, kredenzt zwei weitere Alben und versucht während sechs Jahren erfolglos, da weiterzumachen, wo sie begonnen hat. Vergeblich, der Zug ist schon nach der ersten Single abgefahren. Warum nur, warum nur. Das frage ich mich seit damals, denn die Gruppe hatte mehr als nur Pfeffer für einen einzigen Dancefloor Hit, sie hat massenhaft gute Songs geschrieben, die aber leider nie veröffentlicht wurden. Bis sich der Bandleader 2010 dazu entschliesst, alle Songs, die er mit seiner Band je aufgenommen hat, zu remastern und sie in einem 6 CD's umfassenden Box Set selbst unter die Leute zu bringen, und das nach knapp 15 Jahren. Nun, das Ergebnis wird kaum Jemanden überraschen: Die streng limitierte Box war in Windeseile ausverkauft. Da ich immer schon Fan der Band war, und immer die originale LP besessen habe, hielt ich auch in den Jahren nach der Veröffentlichung immer wieder Ausschau nach einer eventuellen CD-Veröffentlichung. Nur deshalb wurde ich dann 2010 überhaupt auf diese Box aufmerksam und ich besorgte sie mir bei Bandleader Paul Fishman höchstpersönlich. Doch hier erst einmal die abenteuerliche Geschichte der britischen Gruppe Re-Flex.

Lange bevor die Band Re-Flex im Jahre 1983 mit dem Titelstück ihrer einzigen offiziellen LP "The Politics Of Dancing" einen grossen Dancefloor-Hit feiern konnte, der in fast allen internationalen Dance Charts praktisch bis ganz nach oben kam (in Amerika auf Rang 1 als bis dato erste Band, die nicht amerikanisch war!!), spielten Paul Fishman, John Baxter, François Craig und Roland Kerridge schon zusammen und wurstelten an einem aussergewöhnlichen Mix aus Punk Gitarrenriffs, New Wave Melodien und harten Dancefloor Beats. Als es dann soweit war, und die Band einen Plattenvertrag bei EMI unterschrieb, hatten die Musiker schon genügend Material aufgenommen, um ein ganzes Album zu füllen. Die Stücke, die auf der LP dann erschienen, waren bereits vorher als teils selbstproduzierte, privat an ausgesuchte DJ's verteilte Exemplare, teils aber auch als offiziell veröffentlichte 12"-Remixe in den englischen Diskotheken zu hören. Zur Promotion der LP wurden Re-Flex 1983 als Vorgruppe von The Police auf eine weltumspannende Bühnenreise geschickt, was ihrer Reputation sehr förderlich war. Zurück in ihrer Heimat England machte sich die Band daran, teils bereits aufgenommenes, teils neu einzuspielendes Material für eine zweite LP bereitzustellen, denn die LP "The Politics Of Dancing" verkaufte sich prima. Indes: EMI winkte ab. Warum, ist unverständlich und aus heutiger Sicht wohl auch nicht mehr nachvollziehbar. Die Plattenfirma EMI traute der Band einen adäquaten Nachfolger, der ähnlich erfolgreich sein könnte, vermutlich schlicht nicht zu. Dabei führte der nicht einmal so sehr überraschende Erfolg der LP "The Politics Of Dancing" letztlich erst zu einem kreativen Schub, der die Gruppe zig tolle weitere und neue Songs schreiben und aufnehmen liess. Die Band konnte einen Hit vorweisen, die LP warf insgesamt vier Singles ab, die allesamt punkteten (vor allem als Remix-Versionen: "Hurt", "Hitline", "Praying To The Beat" und das besagte Titelstück). Trotzdem war seitens EMI Records schon Ende Feuer.

Dass die Gruppe Re-Flex aber über all die Jahre und bis zum heutigen Tag eine grosse Fangemeinde hat (mich eingeschlossen), führte schliesslich 2010 dazu, dass sich Paul Fishman dazu entschloss, jedes Stück, das er unter der Flagge von Re-Flex aufgenommen hat, zu remastern und als grosses Box-Set privat über seine Website zu verkaufen. Erstaunlich ist dabei die Tatsache, dass sich ausser der Handvoll 12" Singles und der einzigen offiziellen LP so viel zusätzliches, und erst noch hervorragendes Material darunter befand, ohne dass sich igendeine Plattenfirma dazu entschliessen konnte, die Sachen zu veröffentlichen. Das Box-Set "Re-Fuse" umfasst insgesamt 6 CD's, allesamt klanglich hervorragend und mit je einem 16-seitigen Booklet mit der chronologisch gehaltenen History der Band versehen, von denen jede einzelne CD ihren individuellen Titel bekommen hat, und zwar so, wie die entsprechenden CD's eigentlich hätten erscheinen sollen.

CD 1 - Movement Of The Action Fraction (1983)

Hierbei handelt es sich um frühe Songs, mehrheitlich noch stark von der britischen New Wave geprägt, mit punkigen Gitarrenriffs und harten Drum Sounds. Hier gibt es schon den ersten kleinen Hit "Mindless Dancing" zu hören, inklusive überlangem 12"-Remix "Dub Dub Dancing", dazu zwei frühe Singles mit B-Seiten und erste, teils sehr schroff klingende Versionen von Titeln der späteren einzigen und offiziellen LP. Vor allem "Hurt (Maison Rouge Version)" klingt wesentlich interessanter und raffinierter als die spätere, bekannte LP-Version. Die Aufnahmen stammen aus der Zeit von 1980 bis 1983 und als eigenständiges Longplay Album hätte "Movement Of The Action Fraction" eigentlich als eine Sammlung von Dancefloor 12" Remixen insbesondere für DJ's veröffentlicht werden sollen.

CD 2 - The Politics Of Dancing (1983)

Das offizielle, bei EMI Records veröffentlichte Erfolgs-Album, produziert und abgemischt von John Punter (Roxy Music). John Punter sah das Potential der Band und produzierte keine x-beliebige Dancefloor Band, sondern ein powervolles Amalgam aus harten Dance Beats, beissenden Gitarren und knalligem Slap Bass. Die Keyboardsounds stammten aus dem Fairlight, damals dem Nonplusultra in Sachen Synthesizer-Technologie. 1983 erschienen, wurde diese LP später für mich neben Frankie Goes To Hollywood's "Welcome To The Pleasuredome" zur besten und nachhaltigsten sogenannt "modern klingenden" Platte, die den typischen 80er Jahre-Geist verkörperte, ohne dabei irgendwie unorganisch oder gar kalt zu klingen.

CD 3 - Humanication (1984)

Eine klare Weiterentwicklung hinsichtlich des Musikstils markierte dieser leider ebenfalls unveröffentlicht gebliebene direkte Nachfolger zum "Politics"-Album. Neu kamen zu den harten Beats auch butterzarte Pop-Balladen ins Repertoire der Band, und beim Anhören der sich in Ohren und Herzen hinein schmeichelnden "Tears Fall Like Rain" und "Tell Her That You Love Her" darf man sich schon fragen, warum EMI Records oder auch jedes andere mögliche Plattenlabel dieses zweite Album nicht veröffentlichen wollte und es deswegen fast 20 Jahre in Paul Fishman's privatem Archiv lagerte. Der Titeltrack "Humanication" hätte genauso viel überzeugendes Hit-Potential geboten wie das Stück "Cold War". Hat aber nicht sollen sein. Produziert wurde dieser von der Plattenindustrie verschmähte Nachfolger wiederum vom genialen John Punter, diesmal mit keinem Geringeren als Bob Clearmountain (der unter anderem viele Alben von Bruce Springsteen aufgenommen hat) als Toningenieur am Mischpult. Auf "How Much Longer" sang ausserdem der Police-Sänger Sting mit.

CD 4 - Music Re-Action (1983/1984)

"Music Re-Action" kann als weiteres tolles Highlight dieses ausgezeichneten Box Sets bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um eine Sammlung mit sehr raren, meist überlangen 12"-Remixes, allerdings nur deren 4 vom ursprünglichen "Politics"-Album. Die anderen 6 Remixe sind Aufnahmen, die Paul Fishman selber vertrieben hatte, mehrheitlich oder fast ausschliesslich an DJ's. Keiner dieser Songs wurde zum Zeitpunkt der Aufnahme oder später offiziell veröffentlicht. Es handelte sich immer um Eigenproduktionen in sehr geringer Stückzahl, welche Paul Fishman an Disjockeys abgegeben hatte. "Cut It", "True Lust", "What You Deserve" und "Cruel World" sind alles Stücke, die als absolut überdurchschnittlich angesehen werden können, und die zuvor nicht in den Verkauf gelangten. Von diesen 12" Remixen wurden später einige verwendet, als im Jahre 2019 das britische Label Cherry Red Records endlich eine remasterte Doppel-CD Version des "Politics Of Dancing" Albums veröffentlichte, und auf der Bonus CD diese Remixe erstmalig dem Publikum servierte.

CD 5 - Jamming The Broadcast (1985)

1985 dann das eigentlich Unmögliche. Nach einer zweiten, immer noch sehr erfolgreichen Tour durch Amerika, spielte die Band ein weiteres, drittes Album ein. Wiederum produzierte und mixte John Punter, und wiederum hatte die Band ihren eigenen Stilmix verfeinert. Wieder fanden sich etliche Songs mit enormem Hitpotential, und wiederum wollte niemand das Album veröffentlichen. Songs wie "Ain't Nobody", "Wrong Decision", "Angry Man", "Mystery" oder "Chain Reaction" hätten einfach punkten müssen. So blieb es bei einer weiteren komplett eingespielten, aber nie veröffentlichten Platte, die in den Archiven verstaubte.

CD 6 - Re-Fuse / The Stage Of History...The Only One Worth Playing (2010)

Das letzte Kapitel im Schaffen dieser tollen Band. Die letzte CD bietet alternative Mixe, ganz frühe Aufnahmen als John Punter Original Mixe, sowie einige Auftragsarbeiten. Die sind ebenfalls äusserst interessant, weil es da als Gastmusiker zum Beispiel auch Level 42's Bassisten Mark King zu hören gibt - allerdings am Schlagzeug (!). Auftragsarbeiten waren etwa die Stücke "Life's Too Dangerous" und "Revolution Now", welche die Band zum Soundtrack des Films "Superman IV - The Quest For Peace" beisteuerte. Ausserdem gibt's mit dem Titel "Jamming The Broadcast" eine alternative Version dieses Stückes zu hören, die für den Film "Over The Top" mit Sylvester Stallone umgearbeitet wurde. Die erste ultrarare und privat veröffentlichte Single gibt es ebenfalls samt B-Seite zu hören. Und als krönenden Abschluss legt Paul Fishman noch eine Fassung mit Big Band Arrangement des Titels "Mindless Dancing" nach.

Die Box "Re-Fuse" verfügt über keinen offiziellen EAN-Code. Es ist also davon auszugehen, dass die Box von Anfang an nicht in den normalen Handel gelangen sollte. Man findet auch keine weitergehenden Infos zur Veröffentlichung dieses Box Sets im Web. Die einzige Informationsquelle, welche gleichzeitig auch als Bezugsadresse diente, war Paul Fishman's Re-Flex Seite (www. re-flex.info), die es aber leider nicht mehr gibt. Dort konnte man die Box bestellen, solange sie erhältlich war. Wichtig: Wer nur an dem Hit-Album "The Politics Of Dancing" interessiert ist, kann diese CD inzwischen offiziell bei Cherry Red Records ordern mit den weiter oben erwähnten Bonus-Remixen. Für mich sind Re-Flex nach Frankie Goes To Hollywood eine der innovativsten und interessantesten Dance- und Rock-Bands der 80er Jahre. Während 80er Jahre Nostalgik-DJ's den Song "The Politics Of Dancing" bis heute auflegen, ist wohl das gesamte weitere Schaffen dieser tollen Gruppe längst vergessen.

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BRAIN
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Re: [REVIEW] Re-Flex • Re-Fuse 6CD Box Set (2010)

Beitrag von BRAIN »

sehr spannender Review.
Musikalisch nicht so auf meiner Wellenlänge wobei ich schon einiges aus dem 80er Synthiebereich mag.
Bei The Politics Of Dancing als LP würde ich vermutlich zuschlagen.
MAKE PROG NOT WAR ! ---> ---> My 2024 Album Faves
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Louder Than Hell
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Re: [REVIEW] Re-Flex • Re-Fuse 6CD Box Set (2010)

Beitrag von Louder Than Hell »

BRAIN hat geschrieben: Do 29. Feb 2024, 23:00 sehr spannender Review.
Musikalisch nicht so auf meiner Wellenlänge wobei ich schon einiges aus dem 80er Synthiebereich mag.
Bei The Politics Of Dancing als LP würde ich vermutlich zuschlagen.
Lemmy würde jetzt sagen: This is not my cup of tea. Man kann nicht alles mögen, würde ich antworten .....

Aber abermals eine voller Leidenschaft geschriebene Rezi und dieses macht mich immer dann neugierig, auch wenn ich die Sachen nicht kenne. Insofern ist für mich Reinhören immer Pflicht ......
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