
Es gibt Alben, die so schlecht sind, dass man ihnen niemals nachtrauern würde. Und es gibt Alben, die dermassen toll sind, dass man sie sich selbst nach Jahrzehnten noch immer gerne auflegt. Und dann gibt es noch diese dritte Kategorie, über die man ab und an stolpert, wenn man sich in der Geschichte der Rockmusik in den hintersten Ecken eher zufällig mal verirrt. Diese Kategorie sind Alben, die zwar zur Veröffentlichung vorgesehen waren, aber letztlich doch nie das Licht des Tages erblickten. In diese Kategorie gehört das sagenumwobene Livealbum der Jazzrock/Folkrock-Truppe Traffic um die genialen Musiker Steve Winwood und Jim Capaldi.
An den beiden Abenden des 18. und 19. Novembers 1970 bestritten Winwood und Capaldi, zusammen mit Rick Grech und Chris Wood zwei Auftritte im legendären New Yorker Fillmore East. Beide Auftritte wurden damals mitgeschnitten und es war vorgesehen, die Platte als Single LP (keine Doppel LP) auf dem Island Records Label zu veröffentlichen, und zwar weltweit! Warum sich der Island Hausproduzent Chris Blackwell und die Verantwortlichen bei Island Records dann jedoch umentschieden und sich von der Veröffentlichung des Albums im letzten Moment zurückzogen, kann leider nicht mehr eruiert werden. Dabei waren die Aufnahmen beider Auftritte bereits professionell von keinem Geringeren als dem Hendrix-Tontechniker Eddie Kramer abgemischt worden und somit auch qualitativ bar jeden Zweifels als hervorragendes Album in den Startlöchern.
Interessant war vor allem auch, dass schon das Plattencover fertig war, relativ schlicht gehalten in einem dunkelvioletten Farbton gehalten und nur mit der Aufschrift Live Traffic und dem Traffic-eigenen Bandlogo ausgestattet. Aber selbst die blieben letztlich unbenutzt, genauso wie es auch keine Testpressungen der Platte gab, obwohl die endgültige Songauswahl bereits feststand. Die Songauswahl geriet zu einer Art Best of Traffic, sie umfasste Songs aus der früheren Phase der Band ebenso wie relativ neue Stücke, die erst kurze Zeit vorher geschrieben wurden und die schon andeuteten, dass die Gruppe Traffic einen leichten Stilwandel vollzog ("Glad/Freedom Rider"). Entscheidend war hier der erst kurze Zeit vorher zur Band gestossene Rick Grech, der zuvor bei den Bands Family, Ginger Baker's Air Force und der Supergroup Blind Faith gespielt hatte, wo er auch mit Steve Winwood schon viele Inputs sammeln konnte. Als Steve Winwood ihn für Traffic rekrutierte, brachte er neben seinem Bass-Spiel auch feine Gitarrenakzente in die Gruppe. Es war aber vor allem auch sein Spiel an der Geige, welches den Traffic Songs zusätzlich neue Stilelemente verpasste.
In dieser Quartett-Besetzung bestritten Traffic dann zwischen 1970 und 1971 Konzerte, von denen einige live mitgeschnitten wurden, doch erst diese Aufnahmen vom Fillmore East erschienen den Verantwortlichen für eine Veröffentlichung geeignet. Die definitive Songauswahl stand fest, Eddie Kramer reichte die ausgewählten und abgemischten Songs an den Mastering-Experten Tony Platt weiter, der für den Endmix besorgt war. Einem Schreiben von Produzent Chris Blackwell an den verantwortlichen Manager bei Island Records (Tim Clark) legte dieser einen Covervorschlag bei, der dem schlichten Stil eines Telegrams entsprach, doch auch das schlichte Design, von welchem später einige Probedrucke entstanden.
Als nächstes liess Chris Blackwell der in den USA für das britische Label Island Records zuständigen Partner-Plattenfirma United Artists Records ebenfalls diese Probedrucke zukommen, worauf auch schon eine offizielle Bestellnummer der LP aufgedruckt war: United Artists Records UAS-5507. Auch für die Veröffentlichung auf Island Records in England war bereits eine Katalognummer vergeben worden: ILPS 9142. Am Ende nützte all die Vorarbeit nichts: Aus nicht nachvollziehbaren Gründen kappte Island Records im letzten Moment die Veröffentlichung, die Aufnahmen verschwanden in irgendwelchen Archiven und wurden später - und bis heute - in Gänze nie mehr hervorgeholt, geschweige denn veröffentlicht. Man kann vermuten, dass die Verantwortlichen damals glaubten, die LP würde sich eher nicht so gut verkaufen, worüber man natürlich geteilter Meinung sein kann. Schade ist es allemal.
Die Aufnahmen dieser nie erschienenen Live-Platte von Traffic kursierten etliche Jahre als Bootlegs herum, das Internet gibt jedoch nicht allzu viele Informationen her. Ich bin trotzdem über ein paar Kanäle in Südamerika (Brasilien) fündig geworden und gelangte dadurch an die Info, dass zumindest sieben der zwölf Songs aus dem Fillmore East im Jahre 2011 als Bonus Beigabe zur Deluxe Edition Doppel-CD des "John Barleycorn" Albums beigefügt wurden. Diese sieben Songs wurden denn auch remastered und klingen sehr gut. Die restlichen Aufnahmen gibt es bislang auf offiziellen Alben oder Zusammenstellungen nicht zu hören. Sie liegen mir aber durch den Kontakt in Brasilien, den ich habe, nun vor. Sie sind zwar nicht in restauriertem Zustand, aber dennoch von erstaunlich guter Qualität, die durchaus Swinging Pig-Qualitäten aufweist. Man kann nur hoffen, dass es irgendwann auch einmal restaurierte Fassungen dieser bislang noch nie veröffentlichten Songs dieser beiden hervorragenden Sets offiziell zu kaufen geben wird. Eine grosse Lücke im Traffic-Katalog könnte dadurch geschlossen werden.
