Das dichte, düstere Latin-Fusion-Epos Bitches Brew war ein Meilenstein der Produktion und des musikalischen Könnens.
Im August 1969 wagte sich Miles Davis am weitesten in noch unentdeckte Musiklandschaften als je zuvor.
Diesmal gab es kein Zurückhalten mehr, kein zaghaftes Experimentieren, kein "Gehen auf Eierschalen".
Das daraus entstandene Album Bitches Brew war bahnbrechend, angefangen bei seinem schlichten Titel und Abdul Mati Klarweins denkwürdigem Coverbild.
Klarweins expressionistisches Werk, dass auf Miles' persönliche Einladung hin entstand, fängt den Zeitgeist von freier Liebe und Flower Power ein und zeigt ein nacktes schwarzes Paar, das erwartungsvoll auf das Meer blickt, daneben eine riesige, leuchtend rote Blume.
Miles Davis hat einmal gesagt: "Hab keine Angst vor Fehlern - es gibt keine".
Er ist auch der Mann, der den Jazz "vier oder fünf Mal" neu erfunden hat.
Er ist der Mann, der seine Trompete durch ein Jahrzehnt nach dem anderen spielte.
Er war ein Innovator, ein Erfinder und ein Visionär.
Sein Publikum umfasst mittlerweile eine Handvoll Generationen, und was am wichtigsten ist: Seine Musik hat den Test der Zeit überstanden.
Die Liste der Superlative und Adjektive ließe sich endlos fortsetzen, aber Miles Davis lässt sich vielleicht am besten als musikalische Naturgewalt beschreiben; eine Tatsache, die auf seinem 1970 erschienenen Doppelalbum Bitches Brew deutlich zu hören ist.
Davis' 1959 veröffentlichtes Kind Of Blue gilt als eines der Markenzeichen des Jazz und ist über Starbucks und die Vinylregale der Plattenläden auf der ganzen Welt zugänglich.
Ursprünglich war Davis ein angesagter Jazztrompeter, der zum Bandleader wurde, doch schon bald erwarb er sich den Ruf eines unerschrockenen Komponisten, der mit nahezu ständigen Besetzungswechseln und einer Reihe von Platten, die in den 60er und 70er Jahren immer ausschweifender wurden, die Grenzen der Erwartungen seines Publikums sprengte.
Im Jahr 1969 war Davis voll im "Fusion"-Modus; er hatte den Übergang vollzogen und war "elektrisch" geworden und bereit, die Grenzen seiner neuen Band auszuloten, die ein "Who's Who" von aufstrebenden Musikern umfasste.
An drei Tagen im August desselben Jahres führte Davis zusammen mit dem Produzenten Teo Macero eine Reihe von Sessions durch, aus denen schließlich Bitches Brew hervorging.
Die Aufnahmen von Bitches Brew sind legendär: Davis rief die Musiker mit wenig oder gar keiner Vorankündigung zu sich, gab ihnen kurze Anweisungen, bevor er seine verschiedenen Besetzungen in vollem Umfang auftreten ließ und seine Musiker durch seine geistigen Kompositionen führte.
Die Band (in der vor allem Schwergewichte wie Wayne Shorter, Joe Zawinul, Chick Corea und Dave Holland mitwirken) spielt mit einer verblüffenden Geschlossenheit, vor allem wenn man bedenkt, wie zufällig die Aufnahmen zustande kamen.
Tatsächlich erwiesen sich die Sessions als so fruchtbar, dass das Material bis zu Davis' Auszeit im Jahr 1976 für weitere Veröffentlichungen genutzt wurde.
Was das eigentliche Album betrifft, so ist Bitches Brew eine ausschweifende Angelegenheit, wobei jede Seite der ersten LP ausschließlich den ersten beiden Titeln gewidmet ist.
Das zwanzigminütige "Pharaoh's Dance" entwickelt sich langsam, fast wie eine Übung in meditativem Minimalismus, bevor es in einen Backbeat-getriebenen Groove explodiert, der Davis' neu entdeckte Vorliebe für aggressive Rhythmen und rockige Texturen unterstreicht.
Die harte, doppelte Schlagzeugarbeit von Lenny White und Jack DeJohnette bietet eine greifbare Grundlage für die sich überlagernden Soli und Vamps.
Der Titeltrack beginnt mit einer fast undurchdringlichen Klangcollage, bevor er in einen weiteren schwermütigen Groove übergeht.
Die Band bewegt sich hin und her und wechselt zwischen trommelgetriebenen Notenausbrüchen und beunruhigenden Ruhephasen, die von Davis' chaotischem Spiel unterbrochen werden.
Davis' typisch zurückhaltendes Spiel wird auf Bitches Brew zur Zäsur; wo früher düstere Lead-Linien das melodische Gewicht trugen, spielt Davis in beiden Hälften des Albums mit einer unglaublichen Aggressivität, die die Musik mit Notenkaskaden, verirrten Läufen und gequälten langen Tönen durchsticht.
Die zweite LP enthält einige der konzentrierteren Stücke aus den Sessions, bei denen der Shuffle des 17-minütigen "Spanish Key" und das passend benannte, gitarrenbetonte "John McLaughlin" einen schönen Kontrapunkt und ein Gleichgewicht auf der Platte bilden.
"Miles Runs the Voodoo Down" zeigt einige von Davis' gefühlvolleren Parts, während das zurückhaltende "Sanctuary" fast wie ein musikalisches Ausatmen wirkt.
Bitches Brew war nicht nur wegen seiner Musikalität, sondern auch wegen seiner Produktion ein Meilenstein.
Die Tracks des Albums wurden von Macero stark bearbeitet, wobei er alle möglichen Arten von Bandmanipulationen und Studiobearbeitungen einsetzte.
Während die Reaktion von Jazz-Puristen über die Jahre hinweg eher lau war, war es die Fähigkeit der Platte, ein Rock-Publikum anzusprechen und damit Davis' berauschende Art der Fusion einem neuen und viel größeren Publikum zugänglich zu machen, die Bitches Brew wirklich von vielem, was vorher kam, unterschied.
Unterm Strich wird es immer eine subjektive Angelegenheit sein, wo man bei einem so produktiven Künstler wie Miles Davis am besten anfängt.
Aber für jeden, der die komplizierten künstlerischen Beweggründe von Miles Davis wirklich verstehen will, gibt es vielleicht kein besseres Beispiel für die Fähigkeiten des Mannes als Musiker, Komponist, Bandleader und vor allem als Innovator als Bitches Brew.
Pharaoh’s Dance (Joe Zawinul) (19:58)
Bitches Brew (Miles Davis) (27:00)
Spanish Key (Miles Davis) (17:27)
John McLaughlin (Miles Davis) (4:24)
Miles Runs The Voodoo Down (Miles Davis) (14:02)
Sanctuary (Wayne Shorter, Miles Davis) (10:54)
Besetzung:
Miles Davis – Trompete
Wayne Shorter – Sopransaxophon
Bennie Maupin – Bassklarinette
Joe Zawinul – E-Piano
Larry Young – E-Piano
Chick Corea – E-Piano
John McLaughlin – Gitarre
Dave Holland – Bass
Harvey Brooks – Bass
Lenny White – Schlagzeug
Jack DeJohnette – Schlagzeug
Don Alias – Schlagzeug, Congas
Billy Cobham – Schlagzeug
Airto Moreira – Perkussion, Berimbau, Cuíca
Juma Santos – Perkussion
Bihari Sharma – Tabla, Tambura
Khalil Balakrishna – Sitar
Ron Carter – Kontrabass
Produktion: Teo Macero
Studio : Columbia Recording Studio, New York City
[REVIEW] Miles Davis - Bitches Brew (1970)
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Re: [REVIEW] Miles Davis - Bitches Brew (1970)
Definitiv ein Meisterwerk und das Album von Miles Davis, das ich am liebsten mag, zusammen mit "Kind Of Blue" und dem bahnbrechenden "Miles In The Sky".
Die wunderbare Zumutung, selbst denken dürfen zu müssen.
Haben ist besser als brauchen.
(Alte Plattensammlerweisheit)
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Re: [REVIEW] Miles Davis - Bitches Brew (1970)
Miles Davis war ein absoluter Meister auf seinem Instrument der Trompete. Zudem prägte er mit seinem Stil den Cool Jazz und auch den Bebop und öffnete mit diesem Album ganz weit die Türe zur Fusion. Auch wenn er vielleicht nicht der Initiator des Jazzrocks war, aber der Zeitpunkt für die Nutzung elektrisch verstärkter Instrumente war sicherlich ein Startpunkt in eine neue Ära.
Zudem scharrte er eine Vielzahl von renommierten Musiker um sich, die sich in den teils langen Stücken frei bewegen und ihren eigenen bzw. im Zusammenspiel erzeugten Improvisationen folgen konnten. Jazz und Rock waren nunmehr nicht mehr zwei nebeneinander herlaufende Musikstile, sondern sie einten sich zu etwas Neuem. Und dieses ist sicherlich Miles Davis im Zusammenspiel dieser herausragenden Musiker gelungen.
Einzelne Stücke hier herauszuheben, halte ich für müßig. Wer sich aber auf diese Reise begibt, erlebt eine Tour de Force der Freude.
Zudem scharrte er eine Vielzahl von renommierten Musiker um sich, die sich in den teils langen Stücken frei bewegen und ihren eigenen bzw. im Zusammenspiel erzeugten Improvisationen folgen konnten. Jazz und Rock waren nunmehr nicht mehr zwei nebeneinander herlaufende Musikstile, sondern sie einten sich zu etwas Neuem. Und dieses ist sicherlich Miles Davis im Zusammenspiel dieser herausragenden Musiker gelungen.
Einzelne Stücke hier herauszuheben, halte ich für müßig. Wer sich aber auf diese Reise begibt, erlebt eine Tour de Force der Freude.