[REVIEW] Charlie Mariano • Helen 12 Trees (1976)

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Beatnik
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[REVIEW] Charlie Mariano • Helen 12 Trees (1976)

Beitrag von Beatnik »

Charles Mingus hat die Altsax-Spielweise des amerikanischen Saxophonisten Charlie Mariano einmal als "Tears of Sound" bezeichnet: Leid- und Freudentränen als Klang. Charlie Mariano gilt als einer der Jazz-Pioniere der sogenannten World Music, also als ein Musiker, der sich musikalisch offen zeigte für spezielle Spielweisen des Jazz aus der ganzen Welt und viele dieser unterschiedlichen Arten des Jazz in seine eigene Musik einfliessen liess. Dabei half ihm auf jeden Fall seine Offenheit, die ihn immer wieder mit den unterschiedlichsten Musikern aus der ganzen Welt zusammenbrachte, mit denen er Platten aufnahm und die seinen musikalischen Horizont beständig erweiterten. Musiker, mit denen Charlie Mariano zusammenspielte, waren etwa der Holländer Jasper van't Hof, der Japaner Sadao Watanabe, der Belgier Philip Catherine oder auch der aus dem Libanon stammende Oud-Spieler Rabih Abou-Khalil. Das Besondere an Charlie Mariano war, dass er sich auch oft über längere Zeit in den verschiedensten Ländern aufhielt, in welchen er mit lokalen Musikern zusammenarbeitete, so war er etwa in den 60er Jahren in Malaysia und Japan, in den 70er Jahren vorwiegend in Europa, aber auch in Indien, und er gehörte 1979 zu den Mitbegründern des sehr bekannten United Jazz And Rock Ensemble.

Während seiner Zeit in Europa in den 70er Jahren nahm er auch Musik mit Pop- und Rockmusikern auf, und zwei seiner herausragenden Darbietungen waren die Aufnahmen, die er mit der deutschen Jazzrock Band Embryo und mit dem Holländer Jasper van't Hof für dessen Projekt Pork Pie eingespielt hat. 1976 traf er sich in München mit einigen hervorragenden Musikern aus der ganzen Welt, um die LP "Helen 12 Trees" aufzunehmen. Für diese Sessions rekrutierte er den polnischen Violinisten Zbigniew Seifert, der zusammen mit Jean-Luc Ponty als einer der besten Jazz-Violinisten gilt, weil er sich oft stark ausserhalb der Jazz-Strukturen völlig losgelöst freispielte und so eine ganz eigene Spielweise entwickelte, die später zum Beispiel auch von Didier Lockwood aufgegriffen wurde. Mit dem tschechischen Keyboarder Jan Hammer war ausserdem ein Musiker dabei, der sich schon früh durch seine Zusammenarbeit mit John McLaughlin in dessen Mahavishnu Orchestra mit progressiven Synthesizer-Klängen befasste, auf diesem Projekt hier vor allem auch den Moog Synthesizer einsetzte und später vorwiegend Filmmusik produzierte. Als Bassist war der frühere Cream-Musiker Jack Bruce mit dabei, am Schlagzeug John Marshall, eigentlich ein Modern Jazz Musiker, der aber durch seine Zusammenarbeit mit Alexis Korner, Ian Carr's Nucleus und Soft Machine auch wie Jack Bruce für Fusion- und Rockmusik offen war. Als Letzter im Bunde mischte Nippy Noya mit, der indonesische Perkussionist, der lange Zeit in Holland und Deutschland lebte und vor allem im Rockbereich sehr aktiv war zum Beispiel für Jan Akkerman, Golden Earring, Volker Kriegel, Peter Maffay, Udo Lindenberg oder auch Herbert Grönemeyer.

7 Titel spielte dieses hervorragende Sextett im Münchner Union Studio ein und bis auf den Titel "Thorn Of A White Rose" aus der Feder von Jan Hammer handelt es sich bei allen anderen Stücken um Kompositionen von Charlie Mariano, die von seiner enormen Vielseitigkeit zeugen und die vor allem auch das grosse musikalische Spektrum dieses Musikers offenbaren. So zeigt dieses Album schon von Beginn weg eine enorme musikalische Vielfalt, die mit dem Titelstück eindrücklich beginnt: Eine von Jan Hammer dominierte rockende Power Jazz-Nummer, die sehr an die Musik des Mahavishnu Orchestras erinnert, als Hammer dort involviert war. Das nachfolgende verzwickte "Parvati's Dance" ist eines der Paradestücke hier, eine Tour De Force ständiger Rhythmik-Wechsel zwischen 27/8, 3/2 und sehr ungewöhnlichem 5/5 Rhythmus, wie er etwa in traditionellen südindischen Ragas gespielt wird. "Sleep My Love" ist ein gefühlvolles Flöten- und Violinen-Duett: purer Kammer-Jazz mit klassischem Einschlag und sehr elegant gespielt. Interessant ist dann vor allem auch das recht rockig arrangierte Stück "Neverglades Pixie", das vor allem vom unwiderstehlichen Walking Bass-Spiel von Jack Bruce lebt. Es ist gleichzeitig auch das Stück auf dieser Platte, das am nähesten an der Rockmusik angesiedelt ist, was angesichts der starken Präsenz des ehemaligen Cream-Bassisten durchaus nachvollziehbar ist.

"Charlotte" ist ein weiteres Highlight auf dieser Platte: Hier gibt es einen ganz wunderbaren und sehr gefühlvollen Dialog zwischen Charlie Mariano's Sopran-Saxophon und Jan Hammer's Klavierspiel zu hören. Beide Musiker spüren einander hier sehr und spielen mit den Intensitäten, erzielen damit eine grosse Wärme, die den Zuhörer voll in seinen Bann zieht. "Avoid The Year Of The Monkey" ist schliesslich noch einmal eine Nummer, die musikalisch ein anderes Feld beackert. Durch seine Zusammenarbeit mit Soft Machine legt hier der Schlagzeuger John Marshall einen Groove vor, der sehr an die typischen britischen Jazzrock-Pioniere erinnert. Gespielt wird hier eine leicht mystische, klar osteuropäisch ausgelegte Musik, die von dem geheimnisvoll intonierten Dialog zwischen Mariano's Sax und Zbigniew Seifert's Violine lebt.

Man kann diese hervorragend produzierte und gespielte Platte unmöglich einfach unter dem Jazz-Begriff einordnen, da einfach viel zu viele musikalische Einflüsse darauf zu hören sind. Es gibt Stellen, die klare Rock-Strukturen aufweisen, andererseits aber auch recht frei interpretierte Jazz-Muster, ausserdem typische Folklore-Elemente von Osteuropa bis nach Indien und sogar klassische Kammermusik. Ich kenne kaum ein anderes Album, das all diese unterschiedlichen musikalischen Richtungen so perfekt in sich vereint wie "Helen 12 Trees". Es ist auf jeden Fall ein Album, das sowohl einen Jazz-Fan wie auch Jemanden, der eher der Rockmusik zugetan ist, begeistern kann. In seiner musikalischen Vielfalt und der spielerischen Qualität schlicht ein atemberaubendes Album.

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Die wunderbare Zumutung, selbst denken dürfen zu müssen.

Haben ist besser als brauchen.
(Alte Plattensammlerweisheit)
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