[REVIEW] Mark Germino & The Sluggers • Radartown (1991)
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[REVIEW] Mark Germino & The Sluggers • Radartown (1991)
Southside Johnny & The Asbury Jukes, Bruce "The Boss" Springsteen, John Cougar Mellencamp: Sie alle waren und sind sie Erzähler der immer wieder grossartigen Geschichten des kleinen Mannes. Alle haben sie gute und schöne Platten gemacht. Trotzdem war keiner dieser "Voices for the Underdogs" jemals so nahe am kleinen Mann wie ein unscheinbarer Mann aus Kalifornien, der hierzulande grade mal mit zwei Alben, oder genauer gesagt: einem Album und einer (zuvor veröffentlichten) Single seines ersten Albums einigermassen Reputation erhielt. Die zweite Scheibe, die er gemacht hat, war für mich immer so etwas wie ein Kraftspender, wenn es mir beschissen ging, denn die Songs auf diesem Album sind nicht nur herzlich gespielter Rock, sondern auch textlich ein Quell nie versiegender Hoffnung, positivem Geist und Ansporn, die Flinte niemals ins Korn zu werfen.
Es ist wahrlich nicht die Zeit für positiv ausgerichtete Gutmenschenmusik im Jahre 1991: In den Staaten bemühen sich kaputte Jugendliche mit Krachorgien in Selbstfindung. Kurt Cobain erfindet Seattle und zelebriert einer depressiven Jugend die Messe seines bevorstehenden Selbstmords in Form von 3 Minuten Kaputtheiten, primär durch Hochschrauben der Verstärker. In England etabliert sich derweil eine wiedergeborene Schickimicki-Jugend und tanzt verzückt zum ausdruckslosen Rave der Happy Mondays. Da geht ein Mark Germino, ein Songschreiber vor dem Herrn, unweigerlich den Bach runter, denn: Wer braucht noch so einen Gutmenschen ? Wir haben Springsteen, Mellencamp, Southside Johnny. Ha, sag ich da: Wartet, bis es Euch beschissen geht, dann werdet Ihr knien, Mark Germino hören zu dürfen! Denn der Boss ist Kohle, Mellencamp ein einziger langer Suff und von Southside Johnny hat man auch schon lange nix mehr gehört. Mark Germino aber kam, punktete auf 100 und verschwand sang- und klanglos im gesichtslosen und beliebig austauschbaren US-Rock Allerlei. Schade, aber was will man machen ?
Der Titelsong "Radartown" ist ein Springsteen-angelehnter Rocker vor dem Herrn, eine Melodie, die man nicht vergisst, ein Rhythmus, der einem packt und nicht mehr loslässt. So klingen 200 km/h auf einem kalifornischen Highway. Der Song berschreibt eine etwas militaristische Ansicht über eine automatisierte Gesellschaft. Es ist ein Song über eine Regierung, die ihrem eigenen Volk nicht weit genug traut, um es frei leben zu lassen; also zwingt sie die Leute stattdessen mit subtileren Mitteln in eine allzu grosse Abhängigkeit von der Regierung. Der Track steht eigentlich symbolisch für diese Mittel. "Let Freedom Ring" ist eine Art vertontes Gedicht, das aus sieben Strophen besteht. Es stellt die Synthese einer Fünf Minuten Zeitspanne in irgendeiner Grosstadt dar. Dort trägt auf vielerlei Weise jede einzelne Handlung zu der anderen etwas bei: Der Nachtwächter lässt es sogar zu, dass der Rechtsanwalt sich bei seinen nächtlichen Machenschaften sicher und ungestört fühlen kann. Der Refrain klingt, als würde er im Widerspruch zu den Strophen stehen, als würde in den Strophen all diese Korruption befürwortet; aber das ist offensichtlich nicht der Fall. "Leroy & Bo's Totalitarian Showdown" beeindruckt mich sehr: Das Stück handelt von radikaler Verurteilung und Toleranz, die beide nebeneinander existieren. In dem Text existieren zwei Charakteren - Leroy und Bo, die soweit entwickelt werden, bis beide durch ihre eigenen Ueberzeugungen explodieren.
In "Economics (Of The Rat & The Snake)" geht es um kleine privatwirtschaftliche Betriebe, die sich an grosse Firmen verkaufen. Der Song beschreibt, wie ein gewisses Erfolgslevel erreicht und anschliessend an jemanden verkauft wird, dem die ganze Sache im Grunde egal ist und der nur am Besitzen interessiert ist. Somit wird sogar die ursprüngliche Idee des Ganzen begraben und aus dem Weg geschafft, und zugleich mit der Idee wird man auch die Leute los, die ihr ganzes Leben dieser Idee gewidmet haben und nun durch die Geldgier beider beteiligter Seiten verdrängt werden. "Unionville" setzt sich mit den Thema bürgerliche Korruption auseinander. Es ist die Stadt, die sich auf dem besten Weg ist, sich zu "Radartown" zu entwickeln. Der Song handelt von einem Bürgermeister, der zum Beispiel in eine schwarze Südstaaten-Gemeinde reist und dort eine Wohlfahrts-Grillparty veranstaltet, um Geld aufzutreiben und Wählerstimmen anzuwerben. Auf dem Rückweg in sein Büro lacht er sich dann über die Menschen kaputt, die an seine angebliche Hilfe glauben. "She's A Mystery" wiederum ist die Geschichte einer Frau, die sich dem Vorsatz verschrieben hat, sich selbt und andere aus dem Gleichgewicht zu werfen. Sie ist je nach Lust und Laune rücksichtslos oder ausgeflippt, wenn ihr für den Tag nichts Besseres einfällt. Irgendwo in der Geschichte gibt es dann möglicherweise auch noch eine Beziehung. Sie ist die Art von Person, die eine gute Chance hat, immer nach oben zu fallen. "Pandora's Boxcar Blues" geht in eine ähnliche Richtung. Pandora ist ganz allgemein ungefähr die gleiche Frau, von der "She's A Mystery" handelt. Der Unterschied ist der, dass sie eine Beziehung beendet hat und ihr Ex-Partner nun beschreibt, warum er von ihr so fasziniert war. Er ist desillusioniert und versucht, damit fertig zu werden.
Im Titel "Exalted Rose" dreht sich alles um den Mut einer Frau, endlich für ihre eigenen Schwächen geradezustehen, obwohl sie dadurch gleichzeitig die noch grösseren Schwächen ihres Mannes blosstellt. Der Titel "Serenade Of Red Cross" zeigt, wie schnell wir uns selbst zum Sklaven anderer Leute Träume machen lassen, sei es durch die Medien oder einen ganz normalen reaktionären Impuls. 'Hey Now! Hang A Flagless Pole!' (Stell doch einen Mast ohne Fahne auf!) steht symbolisch dafür, wie wir diese Versuchung überwinden können. Weiter geht's mit einem tollen Rock'n'Roll typisch amerikanischer Ausprägung: "Burning The Firehouse Down" setzt ganz auf klassisches Rock'n'Roll Klischee: Junge trifft Mädchen, Mädchen trifft Jungen, Junge benimmt sich wie ein Idiot. Mädchen benimmt sich wie ein Idiot, und 'Water's Dried Up In Our Wishing Well', alle unsere Träume gehen den Bach runter. Schliesslich mein ganz persönlicher, kleiner Höhepunkt auf diesem feinen Rockalbum: "Rex Bob Lowenstein". Rex: das bist Du, das bin ich, das sind wir alle hier ein bisschen: Der Discjockey, der mundfaul nur durch das Auflegen seiner Musik lebt, der 47 Jahre alt ist und sich fühlt wie 16, sein Ding durchzieht und auch mal Madonna und danach George Jones auflegt, nur um zu sehen, wie die Leute drauf reagieren, just for the moment, just for now.
In unseren Breitengraden war Mark Germino mal bekannt durch seine erste Single, die Ende der Achtziger Jahre doch ab und zu auch mal im Radio zu hören war: "Back Street Mozart". Für mich persönlich gehört "Radartown" zu jenen unwiderstehlichen Platten, bei denen für mich einfach alles stimmt: Grossartige Musik, geniale Texte und eine unglaubliche Lockerheit des Interpreten, der sich keinen Deut darum schert, cool sein zu wollen - weil er es eben überhaupt nicht nötig hat. So gesehen ziehe ich Mark Germino's Variante der hemdsärmligen uramerikanischen Rockmusik - zumindest manchmal - jener von John Cougar Mellencamp oder Bruce Springsteen vor.
Die wunderbare Zumutung, selbst denken dürfen zu müssen.
Haben ist besser als brauchen.
(Alte Plattensammlerweisheit)
Haben ist besser als brauchen.
(Alte Plattensammlerweisheit)