[REVIEW] Nutz • Nutz (1974)

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Beatnik
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[REVIEW] Nutz • Nutz (1974)

Beitrag von Beatnik »

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Stellt Euch vor, diese Band und ihr Debutalbum wären ein vielversprechendes Aktienpapier, das frisch an der Börse gehandelt wird und sofort zum Liebling der Anleger avanciert. Jeder würde das begehrte Papier haben wollen. Die Aussichten von Analysten würden durchgängig als vielversprechend eingestuft: ein sogenannter 'Strong Buy'. Doch dann würde das Unternehmen nicht das versprochene Niveau halten und das Papier in der Folge immer mehr an Wert verlieren, bis es auf Ramschniveau angekommen ist. Dann würde diese Band eine Fusion eingehen und zu einem noch hoffnungsvolleren Objekt der Begierde mutieren. Nur würde diesmal auch der Zeitpunkt des Börsengangs stimmen, da auf dem Parkett gerade eine neue Art von Papieren gehandelt würde, die den mysteriösen Namen 'NWOBHM' trägt und aus der Firma Nutz würde die straff organisierte Firma Rage entstehen, und plötzlich würde das Unternehmen auch florieren, zumindest ein paar Jahre lang und vor allem erfolgreicher als das wesentlich differenzierter werkelnde Unternehmen Nutz zuvor.

Also eigentlich kann man sagen, dass die britische Melodic Hard Rock Band Nutz entweder zur falschen Zeit auftauchte, oder aber ihrer Zeit ein paar Jahre voraus war. Denn NWOBHM (New Wave Of British Heavy Metal) war das nicht, was Nutz gespielt haben. Ihre Musik erinnerte doch eher an frühe April Wine beispielsweise: Gut geerdeter, leicht angebluester harter Rock, der in seinen akustischen Momenten zeitweise auch dezent proggige Assoziationen zu Styx oder Barclay James Harvest weckte. Auf jeden Fall war die Qualität des Debutalbums von 1974 erstaunlich, und dieses hohe musikalische Niveau konnte die Band auch nicht halten. Schon das Nachfolgewerk "Nutz Too" zeigte eher härteren Rock mit leichten Defiziten, vor allem im Bereich des Songwriting, aber auch eines wenig differenzierten Klangbildes: Es wurde kontinuierlich mehr draufgehauen, auch wenn die Kompositionen nicht wirklich auf Hard Rock ausgerichtet waren. Das wollte nicht so recht passen. Mit dem dritten Werk "Hard Nutz" zeigte die Band dann überdeutlich, in welche Richtung es fortan gehen sollte, und der Schwanengesang "Live Cutz" war dann vor allem eine wild rockende Bühnenshow, die vor allem hart und deftig sein wollte, dabei aber nicht so überzeugend wirkte wie die spätere Band-Reinkarnation unter dem geänderten Namen Rage, für welche der Gesamtsound der Gruppe in punkto Härte noch einmal eine markante Steigerung erfuhr.

Ueberhaupt waren veränderte Bandnamen so etwas wie ein Markenzeichen der Gruppe. So startete das Unternehmen ursprünglich im Jahre 1972 in Liverpool unter dem Namen Jiminy Cricket. Mit etlichen Personalwechseln und den für lange Jahre mit an Bord bleibenden Zugängen Dave Lloyd und John Mylett kam erstmals ein Wechsel zum Namen Harpoon. Dann erfolgte ein Plattenvertrag mit A&M Records, welche der Band den Namen Nutz aufdrückte. Das nun sein erstes Album einspielende Quartett bestand aus Lloyd, Mylett und den beiden Musikern Mick Devonport und Keith Mulholland. Ueber die Entstehung des nun verwendeten Bandnamens Nutz gibt es unterschiedliche Definitionen über dessen sinngemässen Ursprung. Am schlüssigsten ist aber die Erklärung, wonach es sich bei dem Wort Nutz um die simple Antwort eines amerikanischen Kommandanten im zweiten Weltkrieg handelte, der den Deutschen diese kurze und knappe Antwort auf eine Anfrage der Deutschen zur Aufgabe während der Schlacht in den Ardennen zukommen liess.

Die Verantwortlichen des 'Colour Me Gone' Managements, Mike Clifford und Chris Trendgrove, welche für A&M Records nach Talenten suchten, zeigten Interesse, die neue Formation Nutz zu managen und verpflichteten sie für zwei Alben bei A&M. Auch Peter Grant, der Manager der Gruppe Led Zeppelin zeigte Interesse an der Gruppe, da sie in sein Portfolio passte, zumal Grant zu jener Zeit auch die Band Bad Company betreute. Die Gruppe Nutz veröffentlichte in der Folge ihr erstes, selbstbetiteltes Album (oder "Nutz One", wie es auch bekannt war). John Anthony produzierte das Album. Anthony hatte zuvor bereits die Band Queen produziert. Bemerkenswert und sehr auffällig wurde das Plattencover gestaltet, das eine Dame zeigte, welche die sogenannte 'Legs A Kimbo' Stellung einnahm. Bei der Dame handelte es sich um das Fotomodell Linda Halpin, die Schwester des berühmten Rock'n'Roll Fotografen Ross Halpin.

Im selben Jahr, kurz nach der Veröffentlichung der ersten LP, gingen Nutz gemeinsam mit Queen auf Tournee. Ein gewiefter Schachzug des Managements, denn dank dieser Tour erlangte die Gruppe Nutz innert kürzester Zeit einen relativ breiten Bekanntheitsgrad. Die Tour mit Queen ermöglichte der Band weitere gut besuchte Konzerte, von welchen jene mit Johnny Winter, den sie auf dessen Europatournee begleiten konnten, und dem in England sehr populären Old Grey Whistle Test Auftritt die erfolgreichsten waren. Wiederum unter den Fittichen von John Anthony produzierte die Band anschliessend ihr zweites Album "Nutz Too", das musikalisch eine wesentlich härtere Gangart einschlug, was dem Umstand geschuldet war, dass mit Queen und weiteren Rockbands, mit denen Nutz immer wieder tourten, auch das passende Publikum gefunden zu sein schien. Ausserdem zeigten etliche Produzenten, Managements und erfolgreiche Bands Interesse an Schlagzeuger John Mylett, der dauernd irgendwie abgeworben werden sollte. So bekundeten beispielsweise Ozzy Osbourne oder auch AC/DC und Iron Maiden ihr Interesse an dem äusserst perkussiv spielenden Drummer.

Nach ihrem dritten Album "Hard Nutz" unterzeichneten Nutz einen weiteren Vertrag beim Quarry Management. Deren Geschäftsführer David Oddie verpflichtete die Gruppe für seine Firma, in welcher auch Status Quo, Rory Gallagher und Graham Bonnet unter Vertrag standen. Alan Crux vom Quarry Management sah die Gruppe Nutz gemeinsam mit der Band Snafu (Mickey Moody), die ebenfalls bei Quarry unter Vertrag stand, an einem Konzert. Dieses Management organisierte dann auch Tourneen mit Status Quo und Black Sabbath. Jahre später fragte Ozzy Osbourne John Mylett an, ob er nicht in dessen amerikanischer Band mitspielen wolle, da er unbedingt einen Engländer am Schlagzeug haben wollte, was das Management begrüsst hätte, doch Mylett lehnte ab, genauso wie weitere Offerten namhafter Bands, die den talentierten Nutz-Schlagzeuger unbedingt verpflichten wollten. Einer der grössten Erfolge der Band Nutz war, dass sie hintereinander zweimal am legendären Reading Festival auftreten konnte und vom Publikum frenetisch gefeiert wurde.

Nach dem tragischen Unfall-Tod von Schlagzeuger John Mylett im Jahre 1981 auf Ibiza trennte sich die Band, um später erneut auf der Szene zu erscheinen, nun unter dem Namen Rage und mitt einem wesentlich druckvolleren und härteren Rocksound, der gemeinhin zur New Wave Of British Heavy Metal gezählt wird. Durch einen neuen Management-Vertrag mit John Arnison unterschrieb die neue Band bei Carrère Records in Frankreich und veröffentlichte in den folgenden Jahren insgesamt drei Alben unter dem Namen Rage. Das Debutalbum "Out Of Control" verkaufte sich dabei weltweit am besten, und es erhielt von den Musikkritikern auch die besten Reminiszenzen. Im Rrockmagazin 'Kerrang' gar die Höchstnote von 5 Punkten. 1982 folgte mit "Nice & Dirty" das zweite Album von Rage, für welches Terry Steers als zusätzlicher Gitarrist in die Band kam. 1983 folgte mit "Run For the Night" das dritte Werk von Rage. Inzwischen hatten sich auch Rage eine grosse Fangemeinde aufbauen können und die Gruppe spielte in renommierten Häusern wie dem Marquee und dem Rainbow Theatre in London.

Das Debutalbum von Nutz indes war noch ein eher differenzierteres musikalisches Werk, das noch alle möglichen Stilrichtungen offen liess und deshalb auch nicht zu Unrecht von Fans und Kritikern bis heute gleichermassen als das ambitionierteste Werk dieser talentierten Musiker angesehen wird. Mit "As Far As The Eye Can See" hatte die Band mindestens einen Hitparaden tauglichen Track auf dem Album, der eigentlich hätte punkten müssen. Aber auch die seidenweichen Klänge der leichten Balladen konnten hundertprozentig überzeugen. Der knochentrockene und vorwärts treibende Edelrocker "Light Of Day" und das toll ausproduzierte und recht proggige "Round And Round" dürften die Highlights auf diesem hervorragenden Werk sein, das allerdings kaum einen mittelmässigen Song aufweist. Es ist ein homogenes, in sich gut geschlossenes Werk mit phantastischen Songs, die teilweise aufs Wesentlichste beschränkt blieben und gerade deswegen noch immer funktionieren. Die Band blieb bodenständig, selbst in ihren leicht progressiven Momenten. Nach Nutz und Rage blieben die Musiker weiterhin im Musikbusiness tätig. Der grosse Jeff Beck attestierte dem Gitarristen und Sänger Mick Devonport grosse Kompetenz und nannte ihn einmal einen ebenbürtigen Künstler auf Augenhöhe mit den ganz Grossen des Rock ("the kid from Nutz can do it just as good as anyone"). Devonport spielte später in der US-Rockband Lion mit.

Keith Mulholland wechselte zu Ian Gillan (Deep Purple) und dessen zeitweiliger Band Garth Rockett & the Moonshiners und arbeitete mit Chris Norman, dem Sänger von Smokie, zusammen. John Mylett spielte bis kurz vor seinem Unfalltod mit den Weather Girls. Der Sänger Fish von Marillion schrieb sogar einen Song über John Mylett mit dem Titel "Mylo" nach dessen tragischem Tod. Der Song ist nachzuhören auf dem Album "Misplaced Childhood" von Marillion. Dave Lloyd wiederum spielte auf Demoaufnahmen des ehemaligen Diamond Head Bassisten Mervyn Goldsworthy, dem Ex-Samson Gitarristen Dave Colwell und dem Schlagzeuger Pete Jupp mit, aus der später die AOR Band 2AM mit Mark Thomas entstehen sollte, der kurz darauf allerdings wieder absprang, weil er mit Uli Jon Roth auf dessen US-Tour sang. Dave Lloyd roduzierte auch Werbeclips für das britische Fernsehen.

Das erste Album von Nutz bleibt ein tolles Rockalbum einer Band, die noch vieles am ausprobieren war, sich in allerlei musikalischen Stilrichtungen versuchten und trotzdem einen roten Faden in ihrer Musik fanden. Ihre Stücke boten von akustisch gehaltenen Einleitungen zu wunderschönen mehrstimmigen Folkrock Arrangements, von bluesgetränkten erdigen Rocknummern bis hin zu dezent progressiven Rock-Elementen alles, was eine gute Band ausmacht. Es ist schade, dass die Gruppe sich später auf den reinen Hard Rock reduzierte, denn mit dieser Reduktion klangen sie bald immer beliebiger und verloren ihr solides Fundament zusehends. Erst als Reinkarnation unter der Flagge Rage konnte die Band dann wieder durchstarten, doch da war sie längst im klassischen Hard Rock angekommen. Das Debutalbum "Nutz" ist ein starkes Stück 70er Jahre Rock, das sehr abwechslungsreich klingt und viele Highlights bietet - verpackt in ein ebenso provokantes wie äusserst ästhetisches Plattencover.





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BRAIN
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Re: [REVIEW] Nutz • Nutz (1974)

Beitrag von BRAIN »

Irgendwo ist mir die Band schon mal über den weg gelaufen.
Bisher bin ich aber noch auf der Suche nach gut erhaltenem Vinyl.
Die Clips lassen frühen Hardrock in seiner besten Form hören.
Hervorragende Hooks und ein Sound, der bei einigen Stücken an die frühen Deep Purple erinnert.
Einige großartige Gesangsharmonien und eine harte Kante, die man über echte Lautsprecher mit aufgedrehtem Sound hören muss, um sie wirklich zu schätzen.
Wieder tiefgründig und interessant geschrieben! :wave:
MAKE PROG NOT WAR ! ---> ---> My 2024 Album Faves
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Louder Than Hell
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Re: [REVIEW] Nutz • Nutz (1974)

Beitrag von Louder Than Hell »

Nutz hat's, könnte man sagen, wenn man diese Band denn nur kennen würde.

Aber durch deine Rezi nebst Songbeispielen hast du mich wieder auf den Pfad der Tugend geführt.

Der melodische Hardrock gefällt mir ausgesprochen gut, zumal auch die Gesangsharmonien das verbindende Element zu den Musikstücken darstellt. Wie man sieht, der Geist der etwas härteren Sachen schlummert noch immer in uns.

Mäse, deine umfassende Rezi war mal wieder mehr als interessant.
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