[REVIEW] Rudolph "Hillary" Dietrich • Sheer Hilariousness (2006)

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Beatnik
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[REVIEW] Rudolph "Hillary" Dietrich • Sheer Hilariousness (2006)

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Der einzige wahre, ewige und echte Punk der Schweiz war er vielleicht jetzt nicht grad, Rudolph 'Rudi' Dietrich. Punk sein hiess zu Beginn vor allem: sein eigenes Ding durchziehen, immer auf der Suche sein, kreativ, offen für Neues, immer alles in Frage stellen, keine Komfortzone, nicht stehen bleiben, frech sein, etwas riskieren, sich schräg und abseits des Mainstreams orientieren und bewegen, das Hintergründige suchen, nicht so wie heute, wo man einfach "One Two Three Four" die Ramones kopiert. Unvergessen blieb dieser tolle Künstler allerdings, als er in der Radiosendung 'Sounds' im Schweizer Sender DRS3 die Zuhörer davor warnte, die soeben erschienene erste LP seiner gerade aktuellen Band Expo ja nicht zu kaufen, weil sie Kommerzscheisse sei, und die Band im Studio überhaupt nicht hätte machen können was sie wollte und von der Plattenfirma auch noch gezwungen worden sei, ihren Namen von Nasal Boys zu Expo zu ändern. Man stelle sich heutzutags einmal vor, dass einer seine eigene Platte im Radio derart disst - schlicht unvorstellbar, oder ?. Der Zürcher Rudolph Dietrich gründete 1976 die erste Schweizer Punkband Nasal Boys, wenig später war er Geburtshelfer der in der Schweiz und im angrenzenden Ausland nicht weniger populären Frauenpunkband Kleenex. Kraft durch Freude, Mutterfreuden und Blue China waren weitere Stationen in Rudolph Dietrichs Musikerkarriere. 1987 zog er sich ganz aus der Musik zurück. Erst in späteren Jahren veröffentlichte er, parallel zu einer Blue China-Compilation, mit "Monsieur L'ti Bon Ange" ein Album mit Bluessongs (!).

Im Jahre 2006, in jenen Tagen noch mit ziemlich züchtigem Haarschnitt, hätte Rudolph Dietrich über ausgegrabene und neu gemasterte Song-Raritäten seiner eben erschienenen Doppel-CD "Sheer Hilariousness" sprechen sollen. Er sprach allerdings lieber über das unsägliche Rauchverbot. Über Gottes Rübentisch. Wie es kam, dass er zum Feministen Hillary mutierte. Weshalb er in einem wahnwitzigen, 60-seitigen Booklet die ganze Punk-Geschichte abhandelte. Oder wie cool es 1977 gewesen sei, als Mitglied der Nasal Boys über die berühmten Sex Pistols abzulästern. Da es im Weltbild des erklärten Nicht-Nostalgikers aber weder chronologische noch philosophische Grenzen gab, war Vergangenheit immer auch Gegenwart und Zukunft. Weshalb er lieber über Neuanfänge redete – ein Thema, das sich wie ein roter Faden (oder doch eher wie ein ewiges Rettungsseil ?) stets durch seine Biografie zog. Natürlich kannte der Dietrich-Kenner seine musikalischen Produktionen und Stationen, seine Kehrtwenden und Steilwandkurven. Er wusste von seinen Bands: Nach den Nasal Boys kamen Kraft durch Freude, Mutterfreuden (beide spielten Beat mit Punk-Habitus) und Blue China (Gothic Wave). Und von den oft ominösen Kunstfiguren und -konstrukten wie Monsieur L'ti Bon Ange, Hillary oder Rural Sr.’s Le Voudou Sports Club. Er weiss, dass der Kerl 1979 das eminent wichtige Independent Plattenlabel Off Course Records mitgründet hatte und dass er sich wie ein Geburtstagskind für neu entdeckte Instrumente faszinieren konnte; in den 90er Jahren waren das beispielsweise die Dobro-Metallgitarre und das Banjo.

"Sheer Hilariousness" nannte Rudolph Dietrich die pure Heiterkeit seiner zwei CDs umfassenden Neubearbeitung alter Songs aus all seinen musikalischen Stationen, und die schiere Freude steckte da auch tatsächlich drin. Ohne diesen Frohsinn wäre auch der Widerspruch, dass es sich bei der Zusammenstellung um das weltweit erste feministische Album eines Maskulinisten handelte, wohl nicht in seiner Tiefe zu ergründen. Auf einer üppig ausgestatteten Doppel-CD präsentierten 'Pluralist Church Publishing' und ‘Coffindodgers United’ erstmals 29 absolut klassische Dietrich-Songs, die aus der ersten Generation des Swisspunks (Nasal Boys, Rudolph Dietrich, Kleenex, Kraft durch Freude, Mutterfreuden) hervorgingen und die Szene bis heute prägten. Zusätzlich legte Byron Smith als Erzähler der beiliegenden, 60 Seiten umfassenden Bildgeschichte schonungslos alle Fakten und Hintergründe der Swisspunk-Morgendämmerung auf den Tisch. Ebenso offenbarte er die Hintergründe der wundersamen, energetischen Transformation Dietrichs zu 'Hillary' und auch was diese Wandlung mit der Wahl Benedikts zum Hirten aller Gläubigen gemein hatte. "Sheer Hilariousness" liess insofern keine Frage offen und entführte durch Musik, Bild-Collagen und Wort in ein Universum, das, obwohl nur den nackten Tatsachen verpflichtet, nicht mehr von dieser Welt zu sein schien.

Musikalisch offerierte Rudolph 'Hillary' Dietrich vollkommen überarbeitete Remix- und Remaster-Versionen bis hin zu neu eingespielten Tracks. So war kein rückwärts orientiertes, die Vergangenheit dokumentierendes Nostalgie-Album entstanden, sondern ein straffes Paket von Songs, die im klassischen Punk-Spirit geschrieben wurden, aktuell aber im Tempo des neuen Jahrtausends transportiert wurden und dadurch wieder richtungsweisend gerieten. Insgesamt kam die Musik mit einer Frische und Unverbrauchtheit daher, als wäre sie gerade erst entstanden. Dieses Spektakel konnte somit nicht nur die grosse internationale Gemeinde Eingeweihter begeistern, sondern auch Teen- und Twen-Parties erst richtig zum Krachen bringen. "Sheer Hilariousness" lud voller Übermut zu einer Reise ein: Dorthin, wo die Gesetze von Raum und Zeit nur noch willkürlich erschienen und auch ihre Gültigkeit verloren. Aus damaligen Punk-Brechern entstanden in den Neufassungen herrliche Vorwärts-Rock'n'Roll Songs, die näher an den Ramones waren als an den Sex Pistols. Beispielsweise der Opener "I've Got A Whole Lotta Love": Bis heute will diese 2 Minuten und 17 Sekunden lange Begeisterung nicht abschwellen, das ist purer Rock'n'Roll für's Herz. Der ehemals mit Kraft durch Freude veröffentlichte Song erhielt hier ein wesentlich geerdeteres Arrangement und wurde unter dem Bandnamen Hilarious Ltd. veröffentlicht. Mit "No CBS" (abgekürzt für "No Claim with Bluff and Swindle"), dem damaligen Arschtritt gegen die grossen Plattenfirma, erhielt ein Solo-Titel von Rudolph Dietrich ein neues akustisches Gewand, ebenso wie das ungestüme "Lies" von Kraft durch Freude. Aber auch einige coole Neubearbeitungen klangen richtig klasse, wie beispielsweise der Kleenex-Titel "Ain't You Wanna Get It On", dem Rudolph Dietrich einen neuen Remix verpasste.

Den überwiegenden Anteil an Songs machten bei diesem feinen Zusammenschnitt zwar Kraft durch Freude Songs aus, jedoch gab es insbesondere mit dem Nasal Boys Titel "Hot Love" einen Single-Remix, sowie eine Videoproduktion des vielleicht wichtigsten Zürcher Punk-Songs, und dies allein war schon aus historischer Sicht ein absolutes Tüpfelchen auf dem i dieser wirklich bemerkenswert vielfältigen und ebenso hervorragenden Zusammenstellung. Ein Katapult in eine andere Zeit, in der noch Aufbruchstimmung herrschte, und man sich nicht gross darüber Gedanken machte, wo das alles hinführen soll, was man da hinrotzt. Ein wunderbares Zeitdokument, das auch mich persönlich zurückkatapultiert in eine Zeit, als ich selbst auch noch in diesen dreckigen, verpisst-verrauchten Höhlen herumlungerte (in den angesagten Clubs Hey und Entertainer beispielsweise) und mich lustig machte über die von Rudolph Dietrich besungenen "'68 Zombies" oder über ein "Ticket To Disneyland". Und in Songtexten wie in "Do What You Want", "Here We Go", "I Want Some More" oder "Fight Each Other" fand ich mich dann auch ein bisschen selbst. War eine geile Zeit damals in Zürich.

Dass Rudolph Dietrich indes kein Kämpfer, Auflehner oder gar Revolutionär war, hatte er immer wieder explizit betont. So sagte er 1980 in einem Interview in der Szene-Zeitung '21i': "Wenn wir aber provozieren wollten, hätten wir uns Gestapo oder III. Reich genannt. Kraft durch Freude hingegen hat noch eine neutrale Aussage. Ich finde diesen Namen schlichtweg eine Bombe, verkörpert er doch unser ganzes musikalisches Konzept: Musik um des Spasses, der Freude willen. Wir wollen weder eine Weltanschauung verkaufen noch schockieren, was zählt, ist einzig die Musik". Und noch im Jahre 1983, als die erste Punkwelle längst klinisch tot war, konstatierte Rudolph Dietrich in der Szeneschrift 'Tell': "Gerade die Schweiz ist ein Land, dessen geistiger Bereich nur aus Hüllen überlebter Denkweisen besteht. Daneben existiert ein riesiger Freiraum, der uns auffordert, ihn zu beleben". Wenn man sich diese Aussage Dietrich's vor Augen führte, dann erklärte sich die hier vorgestellte Zusammenstellung "Sheer Hilariousness" eigentlich schon von selbst.

Therefore, don’t hesitate any longer and get your ticket to Hilllaryland! :prayer:





Die wunderbare Zumutung, selbst denken dürfen zu müssen.

Haben ist besser als brauchen.
(Alte Plattensammlerweisheit)
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