[REVIEW] Amon Düül II - Tanz der Lemminge (1971)
Verfasst: Sa 19. Aug 2023, 22:36
Yeti war nicht nur ein Album, sondern eine Offenbarung.
Vor allem die epischen Tracks, machten dieses Meisterwerk aus, sprengten die Grenzen des psychedelischen Rock und schufen eine neue Dimension der kosmischen Ekstase.
Die Band, die aus einer anarchistischen Kommune hervorging, war nicht an die Konventionen der Popmusik gebunden, sondern folgte ihrem eigenen kreativen Puls, der von Halluzinogenen befeuert wurde.
Das Ergebnis war eine wilde und unvorhersehbare Mischung aus Krautrock, Folk, Jazz, Avantgarde und Noise, die bis heute nichts von ihrer Faszination verloren hat.
Amon Düül II waren die wahren Pioniere des deutschen Undergrounds, und Yeti war ihr ultimativer Triumph.
Nach dem bahnbrechenden Erfolg von Yeti, wagten sie sich auf "Tanz Der Lemminge" in neue Territorien vor.
Anstatt die Formel zu wiederholen, die ihnen so viel Anerkennung eingebracht hatte, experimentierten sie mit verschiedenen Stilen, Instrumenten und Stimmungen.
Das Ergebnis ist ein vielseitiges und faszinierendes Werk, dass von folkloristischen Melodien über elektronische Klänge bis hin zu schweren Riffs reicht.
"Tanz Der Lemminge" ist ein Beweis für die kreative Kraft und den visionären Geist von Amon Düül II, einer Band, die sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruht, sondern immer nach neuen Herausforderungen sucht.
Das halluzinatorische Coverartwork lockt wie bei den beiden vorherigen Veröffentlichungen, und die ersten drei Tracks nehmen die ersten drei LP-Seiten ein.
Im Gegensatz zu den beiden Vorgänger-Platten hat die Band diese langen Nummern in verschiedene Suiten aufgeteilt.
Wenn wir die Nadel fallen lassen, werden wir von einer fast Terry Riley-ähnlichen himmlischen Orgel begrüßt, die in den Abgrund schimmert, bevor Amon Düül II den "Syntelman's March of the Roaring Seventies" einleitet.
Chris Karrers Gesang hat sich im Gegensatz zu den ersten beiden Alben geändert, man könnte fast meinen, dass er sich ernsthaft an einen Singer-Songwriter-Ansatz herantastet.
Nach diesem Gesangseinsatz kommt eine kurze Pause, bevor sich das Stück in einen rhythmischen Jam wandelt.
Der Songzyklus gerät ins Schlingern und verliert an Harmonie und sie spielen ein verschwommenes akustisches Intermezzo.
Das Stück zeigt, wie sehr sich die Band als Komponisten verbessert hat, und setzt seinen Weg zum Höhepunkt fort - es wechselt mühelos zwischen Tonarten und Metren.
Schließlich erreichen wir die Auflösung.
Das ist nicht das brutale Yeti-artige Inferno aus verzerrtem Fuzz, sondern ein viel strukturierteres (und blitzschnelles) Gitarrenfeuerwerk.
Die Band unterstützt John Weinzierls immer stärker werdende Gitarrenarbeit mit einem groovigen Beat und er legt einen rasanten Angriff hin, um den zerrissenen und wilden Song zu beenden.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von "Tanz der Lemminge" steckte der Progressive Rock noch in den Kinderschuhen, und die meisten Gruppen experimentierten einfach mit äußeren Einflüssen, ohne zu versuchen, in das Etikett zu passen, das über den Neoklassizismus von King Crimson, YES, ELP oder den Jazz-Rock von Soft Machine geworfen wurde.
Der am weitesten verbreitete Ansatz für diese Experimente auf "Tanz der Lemminge" war die Verschmelzung von fast klassischer Komposition mit psychedelischen Verrücktheiten.
Amon Düül II entgleisen mit ihren manisch improvisierten Freak-Outs, die sie auf ihren beiden vorherigen Alben perfektioniert haben.
Um zu vermeiden, dass diese Momente die eigentlichen Songs verdrängen (und im Grunde genommen Yeti nachmachen), musste die Band diese Energie kanalisieren.
Anstatt 20 Minuten lang mit Volldampf loszulegen, entfesseln die Musiker ihre bombastischen Jams nur für kurze Momente.
Das ist nur der erste Track von einem Album, dass vor Kreativität und Experimentierfreude nur so strotzt.
"Restless Skylight-Transistor Child" ist ein Meisterwerk des Krautrock-Genres, dass die Grenzen der Musikalität und Kreativität sprengt.
Die Band zeigt auf diesem Stück eine beeindruckende Bandbreite an Stilen, Einflüssen und Experimenten, die jeden Hörer in Erstaunen versetzen.
Das Stück beginnt mit einem kraftvollen Hardrock-Riff, das sofort die Aufmerksamkeit erregt und eine energiegeladene Atmosphäre schafft.
Doch schon bald wechselt die Stimmung zu einer düsteren und mysteriösen Klanglandschaft, die von elektronischen Effekten, verzerrten Stimmen und surrealen Klängen geprägt ist.
Dieser Teil erinnert an die avantgardistischen Werke von Faust, die ebenfalls zu den Pionieren des Krautrock gehörten.
Der nächste Abschnitt ist eine überraschende Wende zu einem funkigen Groove, der von einer virtuosen Gitarrenarbeit begleitet wird.
Die Band zollt hier ihren amerikanischen Vorbildern wie Funkadelic und Jimi Hendrix Tribut, die einen großen Einfluss auf die deutsche Rockszene hatten.
Der Funk-Teil mündet in einen explosiven Höhepunkt, bei dem eine wilde Geige das Ruder übernimmt und einen Hauch von osteuropäischer Folklore einbringt.
"Restless Skylight-Transistor Child" ist ein eklektisches und faszinierendes Stück, dass die Vielseitigkeit und Originalität von Lemminge demonstriert.
Die Band schafft es, verschiedene Genres und Elemente zu einem kohärenten und spannenden Ganzen zu verbinden.
Sie spielen mit Humor, Ironie und Leidenschaft, und lassen sich von niemandem in eine Schublade stecken.
Als Meister der Überraschung und der Innovation, wissen sie, wie man einen guten Song schreibt.
Die dritte Seite von "Tanz Der Lemminge" ist eine Hommage an die verstorbene Schauspielerin und Ikone Marilyn Monroe, die von Amon Düül II als "The Marilyn Monroe Memorial Church" bezeichnet wird.
Das Stück ist eine 18-minütige Reise durch die Psyche der Band, die sich von den konventionellen Songstrukturen des ersten Teils der Platte entfernt und sich stattdessen auf freie Improvisation und atmosphärische Klanglandschaften stützt.
Die Musik ist hypnotisch, experimentell und voller Überraschungen, die den Hörer in einen tranceartigen Zustand versetzen.
Dabei nutzt die Band eine Vielzahl von Instrumenten, Effekten und Stimmen, um eine eklektische Mischung aus Rock, Jazz, Folk, Avantgarde zu schaffen, die sowohl chaotisch als auch harmonisch ist.
Amon Düül II laden ihre Zuhörer ein, sich auf unkonventionelle Erfahrungen einzulassen, die sowohl intellektuell als auch emotional anregend sind.
Mit der vierten Seite von "Tanz" wird eine weitere Facette von Amon Düül II um ein Merkmal erweitert: geradlinige Hardrocker.
Das ist die Band, die sich in die Grooves stürzt und einen Rock'n'Roll bietet, um die vorangegangenen Trips Ausnüchtern.
Verglichen mit der Stunde Musik, der ersten drei Seiten, ist es kein Wunder, dass sie im Vergleich dazu blass wirken.
Trotz der gebotenen Kürze und Zurückhaltung passen die Stücke genau in das kosmische Profil, dass Amon Düül II auf ihren ersten drei Veröffentlichungen entwickelt haben.
"Chewinggum Telegram" ist ein standardmäßiger Hardrock-Jam aus den frühen 70ern, während "Stumbling over Melted Moonlight" den Funk rausholt und das beste dämonische Riff spielt, dass Black Sabbath nie gespielt haben.
Das Ende des Stücks stellt alles auf den Kopf, denn das Schlagzeug wird durch etwas gefiltert, dass wie eine Röhre klingt, und die Gitarre durch eine schwerelose Orgel ersetzt.
Das abschließende "Toxicological Whispering" setzt den Endspurt fort, allerdings mit einem trägen, sich wiederholenden Riff, dass eher dazu geeignet ist, die Augen zu schließen und das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen.
Phallus Dei", "Yeti" und "Tanz der Lemminge" zeigten eine kontinuierliche Entwicklung in der Geschichte der Band.
Die nachfolgenden Werke im Laufe des Jahrzehnts, so sporadisch und unterschiedlich sie auch erscheinen mögen, - obwohl immer noch vital - sind im Rückblick kaum wiederzuerkennen.
"Tanz Der Lemminge" ist jedenfalls ein Meilenstein des Krautrock und der progressiven Musik im Allgemeinen.
Es ist kein leichtes Hörerlebnis, aber es lohnt sich für alle Fans von progressivem Rock und psychedelischer Musik.
Die Musik ist voller Kontraste und Überraschungen, dass den Hörer auf eine Reise durch verschiedene Klangwelten mitnimmt.
Seite: 1
SYNTELMAN'S MARCH OF THE ROARING SEVENTIES – 15:51
In the Glass Garden – 1:39
Pull Down Your Mask – 4:39
Prayer to the Silence – 1:04
Telephonecomplex – 8:26
Seite: 2
RESTLESS SKYLIGHT-TRANSISTOR-CHILD – 19:33
Landing in a Ditch – 1:12
Dehypnotized Toothpaste – 0:52
A Short Stop at the Transylvanian Brain-Surgery – 5:00
Race From Here to Your Ears. Part I – Little Tornadoes – 2:08
Race From Here to Your Ears. Part II – Overheated Tiara – 1:46
Race From Here to Your Ears. Part III – The Flyweighted Five – 1:26
Riding on a Cloud – 2:33
Paralyzed Paradise – 3:07
H.G. Wells' Take Off – 1:26
Seite: 3 (Chamsin Soundtrack)
The Marilyn Monroe-Memorial-Church – 18:05
Seite: 4 (Chamsin Soundtrack) – 14.59
Chewing Gum Telegram – 2:41
Stumbling Over Melted Moonlight – 4:33
Toxicological Whispering – 7:45
Besetzung:
Renate Knaup-Krötenschwanz – Gesang
Chris Karrer – Gitarre, Gesang, Geige
John Weinzierl – Gitarre, Gesang, Klavier
Falk Rogner – Orgel, Synthesizer
Lothar Meid – Bass, Gesang
Peter Leopold – Schlagzeug, Percussion, Klavier
mit:
Jimmy Jackson – Orgel, Klavier
Al Gromer – Sitar
Rolf Zacher – Gesang